Ein Baum wächst übers Dach
offene Wunde fallen würde.
Ich hatte geglaubt, in einem ebenso feierlichen Amphitheater auseinandergenommen zu werden wie der selige Hummer zu Beginn meines Kochkurses, wurde aber enttäuscht. Der Operationssaal war ein ganz gewöhnlicher, heller Raum und die Ärzte und Schwestern riefen so fröhlich: «Bonjour, mademoiselle, comment ça va?», als ich zu Fuß in Begleitung der Schwester eintrat, daß ich mich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den Operationstisch setzte, als sollten wir miteinander flirten und Tee trinken.
In meinen beginnenden Chloroformschlummer rief die Narkoseschwester mir ein liebenswürdiges: «C’est ça, vous êtes bien sage...» Ich hatte gerade noch Zeit, daran zu denken, daß «sage» brav, artig, aber auch weise heißt, dann war ich weg.
Von der Stunde meines Erwachens an sprach ich viel besser Französisch als vorher. Meine Mitpatientin war eine kleine Chauffeursfrau aus Clichy, und sie tat Wesentliches für meine Fortschritte in der Landessprache. Vielleicht war ich auch in meinem isolierten und hilflosen Zustand aufnahmefähiger.
Die Eltern waren viel bei mir. Es gab keine geregelten Besuchszeiten, auch standen die Türen zu den Korridoren immer offen, und man war der Besichtigung durch entlangschlendernde Herren ausgesetzt.
Papa kam, als ich noch frisch vernäht und schwer umdrehbar war und erzählte mir ernsten Gesichts, daß er meinen Blinddarm, den der Chirurg ihm in einem Glasbehälter ausgehändigt hatte, aus dem Fenster seines neuen Ateliers auf einen Bauplatz Ecke Rue Gillmere geworfen habe. «Damit du beim Jüngsten Gericht weißt, wo deine Sachen sind», sagte er. Ich mußte schrecklich lachen und durfte es nicht, weil es so weh tat.
Als ich wieder aufstand, war es Frühling geworden. Die Platanenbäume mit den gesprenkelten Stämmen hatten dicke Knospen, und dort, wo die Straßen am Horizont anstießen, war der Himmel veilchenfarben. Das Grau der Häuser schimmerte wie Perlmutter. Hatte ich dieses leuchtende Grau vorher nie bemerkt, oder war es nicht dagewesen?
«Tja», sagte Papa, an dessen Arm ich die Schritte vom Klinikeingang zum Taxi zurücklegte, «man muß sich eben öfter den Blinddarm herausnehmen lassen, das erfrischt sehr.»
Der Taxichauffeur, ein bärenstarker Russe, trug mich die enge Treppe bei Mutter Veilchen empor. Ich war damit beschäftigt, mich so leicht wie möglich zu machen, und vergaß darüber ihn zu fragen, ob auch er Flügeladjutant des Zaren gewesen sei wie fast alle Pariser Taxichauffeure.
Die Zimmer waren, verglichen mit der Klinik, wirklich ein Zuhause. Auch sie schienen sich verschönt zu haben. Madames Kanarienvogel sang viel lauter, seit er in seinem Käfig draußen vor dem Fenster hängen durfte. In dem engen Höfchen schrien die Kater und trugen nachts ihre Machtkämpfe aus. Einmal warf ich früh um drei einen Pantoffel nach ihnen. Es nützte nichts! Am anderen Morgen mußte ich mehrere Conciergen ansprechen, um den Pantoffel wiederzukriegen. «Ich meine», sagte Mama eines Morgens beim Tee-Einschenken, «wir fahren in ungefähr vier Wochen heim.»
«Ja», fand Papa, «das wäre gescheit.»
Die Erfahrung, die ich so oft in der Schulzeit gemacht hatte, bestätigte sich wieder einmal: Wenn erst alles leicht geworden ist, dann ist es auch schon zu Ende. Es war geradezu gemütlich geworden in Paris, nun, da man draußen vor den Cafés sitzen konnte und alles Schöne gut genug kannte, um gelegentlich einem Lieblingsbild im Louvre eine kurze Stippvisite zu machen.
Die Boulevardbäume hatten sich begrünt und warfen abends bewegliche Schatten auf das Trottoir. Man wurde von einigen Ladenbesitzern, bei denen auch Mutter Veilchen einkaufte, höflich gegrüßt, wenn man vorüberging. Es roch auch nicht mehr ausschließlich nach Benzin, weil die Sträuße der Blumenfrauen rings um die Madeleine so stark dagegen andufteten.
Mitte Mai verpackten wir das chinesische Teekännchen zwischen die Sofakissen, damit es nicht zerbrach, gaben unsere großen Koffer auf, verschnürten Papas Staffelei und verabschiedeten uns von Madame Violet. Sie war über Gebühr gerührt, hatte sich sonntäglich frisiert und küßte uns alle, sogar Papa. Von ihren Segenswünschen begleitet, verließen wir die Stadt. «Wenn man sehr viel Geld hätte», sagte ich träumerisch, während der Zug kurz nach der Gare du Nord durch die fürchterlichen Hinterhöfe fuhr, «sollte man jedes Jahr einmal nach Paris reisen.»
«Ja», sagte Mama.
Sie unterdrückte
Weitere Kostenlose Bücher