Ein Baum wächst übers Dach
gequält. «Si vous voulez», sagte er, wie zu einem eigensinnigen Kind, dem man seinen Willen läßt. Nur die Vorschläge eines schlichtgekleideten Herrn in der ersten Reihe verwarf er nicht, behandelte ihn vielmehr mit Ehrfurcht und Zartheit und richtete seine gelegentlichen Scherze nur an ihn. Ich hielt ihn lange für ein Direktionsmitglied, weil er einmal, als der Chef ans Telefon gerufen wurde, die Lektion aus dem Stegreif weiterführte. Erst spät erfuhr ich die Wahrheit: Dieser stille Junggeselle aus Neuilly nahm zum zwölften Male an dem Kochkurs teil, einfach zu seinem Vergnügen.
Die Wochen vergingen rasch, und plötzlich waren es Monate. Ich war immer weniger zu verblüffen und konnte schon einem Kalbskopf ins starre Auge blicken, ohne zurückzuweichen. Mein liniertes Heft füllte sich mit Rezepten von Ragouts, Baisertorten und Geflügel-Croquettes. Als Mama festgestellt hatte, daß ich trotz meiner Blondheit durchaus nicht andauernd auf der Straße angesprochen wurde, durfte ich alleine nach Hause gehen. Wann auch immer ich zu Hause eintraf, Madame Violet schüttelte als Willkommen meist gerade ein Staubtuch aus und hatte das Haar in Papilloten.
«Bonjour, madame, comment allez-vous ce matin?» fragte ich höflich.
«Pas trop bien», erwiderte sie matt, «j’ai les nerfs malades, moi.»
Ich stieg die enge Treppe hinauf und schloß die Tür des großen Zimmers hinter mir. Dann stimmte der Satz wieder, daß Zuhause da ist, wo die Eltern sind. Hin und wieder lag eine Postkarte da, mit steiler Schrift in lila Tinte, es war manchmal auch ein Haar in der Feder gewesen, Anna der Igel schrieb aus dem fernen Seeham: «Werthe Familie teile ihnen mit, daß wir alle gesund sind und hat das Hundsviech gestern einen Hasen derwischt. In Egling war eine Dult, wenns nicht der Geldbeidel war hätte auch hingehen mögen. Das Sauerkraut ist nichts worden und stüngt wie pest freundliche Grüse.»
Ganz unvermutet war dann eines Tages der Kurs in der Kochakademie zu Ende. Ich erfuhr zu meinem Erstaunen, daß die Kastanientorte vom Vortag meine Examensarbeit gewesen sei. Die Vorzimmerdame küßte mich, durchdringend nach Veilchen riechend, auf beide Wangen, nannte mich «chère petite» und überreichte mir ein imposantes Diplom auf meinen Namen. Es hatte einen reichverzierten Rand, auf dem Rebhühner und gebündelte Spargeln in eine Girlande geflochten waren.
Bruder Leo schrieb aus Serbien, seine Holzeinkauferei sei etwas langweiliger als vorgesehen, die Wälder dafür aber um so größer. Er müsse doch noch ein paar Monate drangeben, während derer er sich ausschließlich von frischgeschlachtetem, gummiartigem Schweinefleisch und Paprika zu ernähren habe. Es sei im übrigen eine ausgezeichnete Idee gewesen, mich kochen lernen zu lassen, ich könne mir dann später notfalls immer als Hotelköchin mein Brot verdienen. Über diesen Passus schnaubte ich ein Lachen durch die Nase. Für mich legte er einen Zettel bei mit einem englischen Spruch. Er lautete:
«Geh in den Garten und sieh zu, ob du bei Regen und Sturm auf offenem Feuer eine Omelette soufflée zustande bringst, während ein Mann dich dauernd zu küssen versucht, und du wirst erfahren, ob du wirklich kochen kannst.» Madame Violet hatte viele Abneigungen: gegen Türenschlagen (wir schlossen die unseren immer ganz leise), gegen Amerikaner, gegen Hunde, gegen Patentmedizinen und leider auch gegen Papas Malerei. So nahm er denn seine Staffelei und seine Farben und zog in ein kleines Leerzimmerchen in einem benachbarten Stadtteil. Um dieses Ereignis zu feiern, gingen wir ins chinesische Restaurant und aßen einen der dort üblichen Salate aus Regenwürmern. Papa erwartete von mir, daß ich mit geschlossenen Augen anzugeben wüßte, aus was er zusammengesetzt sei, aber das konnte ich nicht.
Ich bekam in der Nacht fürchterliches Bauchweh, erschien grünbleich am Frühstückstisch, und Mama machte liebevoll besorgte, etwas ärgerliche Bemerkungen über die asiatische Küche. Abends holten wir den Arzt. Es stellte sich heraus, daß mein Leiden mit der asiatischen Küche gar nichts zu tun hatte. Es war der Blinddarm.
Am nächsten Tag lag ich in einer Klinik und konnte völkerkundliche Studien treiben: Die Schwester war Armenierin, der Stationsarzt Grieche, der Chirurg, der mich operieren sollte, Russe und das ganze Krankenhaus schweizerisch. Das Schweizerische daran beruhigte Mama irgendwie. Sie meinte, daß mir nicht ganz so viel französischer Schmutz in die
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