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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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schrecklich zu stinken schien, obwohl ich ihn täglich leerte. Mit mir war offensichtlich etwas nicht in Ordnung.
    Wenige Tage später stellte Michael sein Fahrrad in den Korridor und näherte sich mir mit jenem optimistischen Funkeln in den Augen, das ich in unserer kurzen Ehe als Vorboten unangenehmer Eröffnungen kennengelernt hatte. Ich kam ihm zuvor.
    «Ich habe dir etwas mitzuteilen», sagte ich rasch. «Ich dir auch», erwiderte er.
    Wir setzten uns aufs Sofa und klammerten uns aneinander, als seien wir in der Gondel eines davonfliegenden Fesselballons. Michael eröffnete mir, daß ich mir um einen Fensterputzer überhaupt keine Sorgen mehr zu machen brauche. Infolge neuerer Bestimmungen für die Untervermietung von Leerwohnungen müßten wir sowieso in acht Wochen die Wohnung räumen.
    Es wird niemanden wundern, daß ich nun meine Mitteilung, die in bürgerlichen Kreisen als das Süße Geheimnis bezeichnet wird, mit den Worten «Teufel auch, und ausgerechnet jetzt...» begann.
    Dessenungeachtet zeigte Michael sich geziemend ergriffen, und ich kam mir sofort wertvoller vor als eine Vase aus der Ming-Dynastie. Er stürzte in seine Bastelecke und machte als erstes einen Deckel für den stinkenden Abfalleimer. Dann stieg er in seinen Frack und öffnete eine Flasche roten Champagner aus den Beständen meines Schwiegervaters. Das mit dem Frack war eine vorzügliche Idee, denn er sah hinreißend darin aus, und es war das einzige Mal, daß ich ihn so gekleidet sah. Wenige Monate später war der Frack nebst aller anderen Gesellschaftskleidung ein Häufchen Asche. Der Champagner wirkte auf mich weniger gut, denn mir wurde gottsjämmerlich schlecht davon.
    Familien, in denen ein Kind erwartet wird, zerfallen in zwei Kategorien. Bei den einen wird der jungen Mutter schon neun Monate vor dem großen Ereignis eine Fußbank untergeschoben, wobei sie innig auf ihre gefalteten Hände niederzublicken hat. Bei den anderen richtet sich der Zeitpunkt der Klinikfahrt danach, ob sie während der Wehen noch auf einem Bein stehen kann. Aus Seeham verlautete, daß die überängstliche Mama bereits für den Fall meines Besuches ein Geländer im Treppenhaus habe anbringen lassen, damit der Enkel so vieler tapferer Ahnen nicht vorzeitig Schaden nähme. Ferner, daß Papa täglich hart trainiere, aufrecht sitzend im Lehnstuhl einzuschlafen. Großväter hätten das zu können.
    Ich hatte das Glück, aus meiner vorsichtigen Familie in eine andere geraten zu sein, die mich genauso liebhatte, aber von zünftigem Sportsgeist erfüllt war. Meine bezaubernden Schwägerinnen traten nun zum ersten Male voll auf den Plan. Schon in den ersten Monaten riefen sie an, um sich nach meinem Ergehen zu erkundigen. «Ach, du bist schon bei Sodbrennen, himmlisch!» sagten sie, bündelten die nötigen winzigen Wäschestücke, deren sie genügend hatten, und gaben sie per Post an mich auf. Auch rieten sie mir, falls die viele Milch, die ich vom Dritten Reich zugeteilt bekam, mir nicht schmecke, einen Schuß Kognak hineinzutun und ab sofort in allen Apotheken Berlins auf meine amtlichen Bescheinigungen reinen Alkohol für die Wochenpflege zu hamstern. Es ließen sich köstliche Kräuterschnäpse damit ansetzen. Gelegentlich kamen sie auch nach Berlin, um Besorgungen zu machen, und brachten mir ihre sanften, großäugigen Kinder, die mit einem kleinen Kartonkoffer inmitten meines Teppichs niederfielen und ernsthaft spielten, bis sie wieder abgeholt wurden. Es war sehr beruhigend, Rasse und Schädelbau dieser Kleinen zu studieren. «Versehen» kann man sich bekanntlich nur einmal: bei der Wahl des Vaters. Bald aber konnten wir keine Besuche mehr empfangen, mußten die eben erst ausgepackte Bücherkiste wieder einpacken, wobei es wiederum nicht ohne Vorlesenächte abging, die Bilder in die Vorhänge wickeln und der Wohnung Lebewohl sagen. Als wir sie abschlossen, ahnten wir nicht, daß sie wenige Monate später samt den darüberliegenden vier Stockwerken restlos abbrennen und dabei die ganze Straße mit in den Untergang reißen würde.
    In einem letzten Versuch, allen Gewalten zum Trotz zusammenzubleiben, suchten wir noch eine Weile eine andere Wohnung, fanden keine und zogen in eine Pension mit gesprungenen Waschbecken und Elfenreigen überm Doppelbett.
    Als ich anfing auszusehen wie Luftmarschall Göring, nur ohne die Orden, entschloß ich mich schweren Herzens, Michael sich selbst zu überlassen. Ich zog hinaus zu den Schwiegereltern, zwischen Kornfelder und

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