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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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womöglich angepöbelt zu werden. Beim Lebensmittelhändler vis-à-vis ließ eine Frau dabei ein Päckchen liegen, das sie schon bezahlt hatte. Es war «deutscher Kaviar, markenfrei», eine brandsalzige, pechähnliche Masse, aber als Abwechslung und Kalorienträger von hohem Wert. Ich ergriff das Päckchen und stürzte ihr nach, ohne sie wiederzufinden. Die Verkäuferin und ich waren ganz traurig. «Nee, wissen Se», sagte sie, «als ob’s nicht schon schlimm jenuch wäre, daß se Jüdin is. Nu det ooch noch. Hoffentlich holt se’s morjen.»
    Ich hatte gehofft, Schätze an überflüssiger Zeit zur Verfügung zu haben, nun da ich keine Diktate mehr aufzunehmen hatte, aber sie wurde mir durch die lagebedingte Unterteilung der Woche in ganz kleine Münze umgewechselt. Montag: nach Quark fragen, Dienstag: Reparaturannahme beim Schuster, Mittwoch: Kekse für alle, die mit dem Buchstaben N anfingen, Donnerstag traf vielleicht im Seifenladen braune Schuhcreme ein. «Die geht jetzt reißend ab», sagte die Seifenfrau, «die und die weiße. Die Leute pflegen ihre Böden damit, wat wolln Se machen!» Und Freitag hoffte ich auf Fisch in dem Geschäft in Wilmersdorf, wo ich noch von meiner Sekretärinnenzeit her eingetragen war. Ich mußte über eine Stunde Stadtbahn fahren, um diesen vorehelichen Fisch zu holen.
    Ab Samstagmittag durfte nichts mehr stattfinden, was mit dem Haushalt zu tun hatte. Die Stunden mit Michael waren zu kostbar. Wir hatten viele ohne einander verbrachte Jahre nachzuholen und wußten nicht, wie viele wir würden zusammen verbringen dürfen. Der Krieg erinnerte einen täglich daran, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei, auch wenn man es gar nicht wissen wollte. Die Ämter, die über so manchen noch ihre Flügel gebreitet hatten, leerten sich zugunsten der Front. Nachts im Bett fing man an zu frieren, weil einem die armen Soldaten in Rußland einfielen. Die Pelzsammlung war schon recht, aber Einsichtigen kamen berechtigte Zweifel, wann, wo und in welcher Gestalt Frau Piesekes alter Umhängefuchs einen Soldaten wärmen sollte. Schon mußte man die ersten Kondolenzbriefe schreiben, und wenn in der Anzeige das berühmte «in stolzer Trauer» gestanden hatte, dann war es so schwer, den rechten Ton zu finden.
    Wenn nachts die Sirenen gingen — es kam selten vor — verschlief ich sie. Im Unterbewußtsein war ich wohl der Meinung, Michael würde sich dieser Sache annehmen, wie er mir auch sonst jeden Stein aus dem Wege räumte. Schreckte ich wirklich einmal auf, so fand ich ihn an seinem Schreibtisch, wo er an einer Novelle arbeitete. Ich packte mir die Füße warm in ein Plaid ein und bastelte mit an der Novelle herum, bis die Entwarnung kam.
    Zu Michaels erstem Ehegeburtstag telegrafierte Mama aus Seeham nicht nur Glückwünsche, sondern auch ein Rezept für einen gekochten Pudding ohne Ei. Wie immer, wenn Nachricht von ihr gekommen war, durchfuhr es mich, daß ich meinen neuen Beruf so schlecht ausfüllte. Meine Einteilung schien nicht gut zu sein.
    Ich suchte im untersten Fach von Michaels Regal zwischen den Persischen Miniaturen und dem Untergang des Abendlandes nach Mamas altem Hausarbeitsbuch. «Kind, nimm’s meinetwegen mit», hatte sie in Seeham gesagt, «ich glaube nicht, daß etwas Brauchbares drinsteht.» Am Bücherregal lehnend, in Kopftuch und Schürze, durchblätterte ich den etwas stockig riechenden Ganzlederband mit Goldschnitt. Aha, da war es: Zimmerreinigen. Mit fester Hand hatte Mama die Reihenfolge eingetragen, die man ihr beibrachte. Marmorfiguren zuhängen oder hinaustragen. Portieren ausbürsten. Fein, beides hatte ich nicht. Unter drittens stand: Bohnern lassen. Lassen? Schön, da ließ ich es eben. Ich nahm dafür die Küche feucht auf und staubte überall ein wenig ab. Nur mit den riesenhaften Fenstern kam ich nicht zurecht. Es war kein Gedanke daran, daß ich sie hätte putzen können, sie belegten sich mit einer rußigen Schmiere aus Berlins tausend Schloten und erblindeten. Als ich den Tag nahen sah, an dem ich das Delikatessengeschäft gegenüber nur mehr aus der Erinnerung würde lokalisieren können, begab ich mich auf die Suche nach einem professionellen Fensterputzer. Ich war stark verstimmt, als ich feststellte, daß alle Angehörigen dieses Gewerbes längst an der Front standen. Ja, ich regte mich regelrecht auf und war den Tränen nahe. Schon das hätte mich stutzig machen sollen, noch mehr aber meine tiefe Abneigung gegen den Abfalleimer in der Küche, der mir

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