Ein Baum wächst übers Dach
war dahin, die Berliner Wohnung von den Verhältnissen besiegt — nichts war uns geblieben als diese Festung aus Brettern, die zu verteidigen ich mich entschlossen fühlte. Hier würden wir die noch fälligen Reste des tausendjährigen Reiches überdauern und Michael erwarten.
Dicki, der wie seine ganze Familie eine Abneigung gegen große Momente hat, schrie abwehrend, und Mama brachte ihn unter zärtlichen Schmatz- und Locktönen ins Haus. Zwei der fichtenen Hocker von der Veranda waren zusammengeschoben worden, darauf stand der alte Waschkorb mit einem überzogenen Strohsack darin. Nach längerem Überlegen hatten die Eltern diese Lagerstatt in das Zimmer hinter dem Wohnzimmer an den Kamin gestellt, weil dort ein Rohr vom Herd hindurchlief und eine gewisse Wärme ausstrahlte. Es war somit außer dem gemeinsamen Wohnraum, der von Windeln freibleiben mußte, der relativ geeignetste Raum, um ein Kind großzuziehen.
Wir alle wurden Anhänger der Relativitätstheorie. Die Windeln wurden relativ trocken auf der Stange über dem Küchenherd, vorausgesetzt, daß man diesen Tag und Nacht heizte. Die Waschgelegenheit in dem nun zum Kinderzimmer verwandelten Raum war relativ geräumig, Dicki badete gern darin und riß listigerweise den Stöpsel an der Kette heraus, ehe ich mit Abseifen fertig war.
Auf einen Kinderwagen, der auch in der kleinen Kreisstadt nicht mehr zu bekommen gewesen wäre, verzichteten wir. Papa stellte den Satz auf, daß die oberbayerische Luft zwischen Birke und Haselstrauch die gleiche sei wie die auf der Dorfstraße, und daß die Kinder durch das betäubende Geschüttel des Fahrens nur verblödeten. Dicki bekam ein Kopfkissen als Plumeau und wurde mit seinem Waschkorb auf zwei weitere Fichtenholzhocker in den Windschutz der Veranda gestellt. Es war doch gut, daß Bruder Leo damals so reichlich Fichtenholzhocker hatte anfertigen lassen, in der Meinung, daß wir in Seeham ohne städtische Stühle würden auskommen müssen. Während das Kind draußen schlief, schrieb ich an meinem täglichen Feldpostbrief. Diese numerierten Episteln und die ebenso numerierten Antworten, die in bunter Reihenfolge einliefen, standen seltsam luftleer im Raum. Ich schrieb, wie gut es uns gehe, welche Geräusche Dicki machte, wenn er Brei bekam, und welche Bücher ich las. Michael berichtete interessant über Land und Leute. Er verlor nie ein Wort darüber, daß die Leute aus purer Bosheit auf ihn schossen. Der Grundton meiner Briefe war ein ausgedehntes «Weißt du noch...» Ich begoß das Blumenbeet unserer wenigen gemeinsamen Erinnerungen und grub auch all das um, was vor meiner Zeit gelegen hatte. Michael sprach ausschließlich von der Zukunft. «Wenn erst dieser Krieg vorüber ist, dann müssen wir unbedingt...» war sein Refrain.
Draußen wurde es von Tag zu Tag kühler. Die Bäume standen so still, als hätte jemand zu ihnen energisch Pscht! gesagt, und morgens hing der Nebel lange in den Zweigen. Der Bach murmelte lauter als in den früheren Monaten, wo die Grillen und Frösche ihn niedergeredet hatten. Alle Sommergeräusche waren verstummt. Hie und da kam einer der Dorfbewohner zu uns heraus, scharrte mit den Füßen auf der Matte und klopfte an der schon geöffneten Zimmertür. Die ersten Reden und Gegenreden drehten sich darum, wie warm es doch in einem Holzhaus sein könne. Dann wurde das Kind begutachtet. «Der is scho recht», lautete das Urteil, «nur dünne Füaß hat er halt no, so dünne Füaß.» In Bayern beginnen die Füße dort, wo die Beine angewachsen sind. An Dicki wurden nur rein rhetorische Fragen gerichtet, wie: «Ja, wo bis denn du, du Schlawiner?» oder: «Ja, wem schaust denn du gleich? Deiner Mama?»
Sonst kam niemand. Wir hätten nun ein gesellschaftliches Treiben mit den wenigen in Seeham gestrandeten Gebildeten und Halbgebildeten anfangen können, aber Papa meinte vorsichtig: «Wann sie kommen, das weiß man, aber wann sie wieder gehen, das weiß man nicht.» So blieben wir lieber unter uns. Wir bereuten es niemals. Das Landleben war auch keineswegs langweilig, es war ein beständiger Kampf mit vielen kleinen Siegen und ein paar Niederlagen, die man voll sportlichen Eifers zu vermeiden trachtete. Ein Haken war jedoch dabei. Ich war vollständig falsch ausgerüstet. Ich besaß Handtaschen, Hüte, Puderdosen und goldene Abendsandalen, für die sich nicht einmal ein paar Eier eintauschen ließen, aber keine Skistiefel, keine Filzschuhe und keinen Anorak. Auch waren meine sämtlichen, für
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