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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Augen fast nicht von der Uhr wenden konnte. Er sah in der Uniform aus wie ein Operettenprinz und roch schlecht nach fremden Kasernen. Da er beinahe noch vor der Begrüßung in die Badewanne stieg, wir aber mit Erzählen nicht so lange warten konnten, so lagerte ich mich neben die Wanne auf den Frotteevorleger, und wir bildeten inmitten des immer grausamer werdenden Krieges eine Gruppe von schöner orientalischer Lässigkeit.
    In wie vielen Badezimmern Deutschlands mag sich um diese Zeit etwa folgende Unterhaltung abgespielt haben: «Meinst du, daß der Krieg bald aus ist?» — «Ja — ich weiß auch nicht. Es kann ja auch ganz plötzlich schnell gehen.» — «Meinst du, daß du noch hinaus mußt?» — «Ich denke, ja.» — «Und wohin?» — «Das weiß man erst ganz kurz vorher.»
    Damit behielt Michael unbedingt recht. Von einem Tag auf den anderen mußten wir Dicki taufen, weil das Feld der Ehre nicht länger auf Michael verzichten konnte. Die Schwiegereltern machten uns das Fest so reizend wie nur irgend möglich. Wir begingen den Fehler, Dicki viele schöne und klangvolle Namen zu geben, bei denen er ebensowenig gerufen werden würde wie seine Väter und Vorväter. Während der Zeremonie war er ruhig und erstaunt, weil ich ihm den Schnuller in Sekt getaucht hatte; nur als dicht neben ihm der schartige Kriegerbaß seines Vaters in ein frommes Lied ausbrach, begann er zu klagen. Ich saß in einem rotseidenen Sessel, die Füße gekreuzt, wie in den «Buddenbrooks», und blickte schräg nach unten auf Michaels unförmige Soldatenstiefel, eine Fußbekleidung, die zu dem eleganten Michael paßte wie die Faust aufs Auge.
    Aus Seeham hatte keiner zur Feier zu uns stoßen können. Michael meldete ein Telefongespräch an, um sich wenigstens mündlich zu verabschieden. Es lief vierundzwanzig Stunden lang, und ich sah im Geiste Mama angstbeflügelt immer wieder zum Gasthaus eilen, wo der einzige Seehamer Telefonapparat an einer bekritzelten Korridorwand neben den Bierfässern angebracht war. Schließlich ließen wir das Gespräch streichen, denn Michael mußte fort. Ich fand es nett und barmherzig von seiner Truppe, ihn zu einer blödsinnig frühen Zeit zu bestellen; morgens um halb fünf Uhr ist man so verfroren und verschlafen, daß man den Abschied wie unter Lokalanästhesie empfindet.
    Die Johannisbeeren waren abgeerntet, es gab keine roten Grützen mehr zu kochen. Der Haushalt der Schwiegereltern lief wie auf Kugellagern. Ich hatte wenig zu tun. Der Endsieg schien ferner denn je. Mir schien plötzlich, ich könne ihn nur in meinem heimatlichen Oberbayern abwarten und dabei für die Eltern kochen. Mama hatte in punkto Suppen so wenig Phantasie.
    Schwiegermama und ich suchten in der Kofferkammer eine große Leinentasche mit festem Boden, stopften eine kleine Matratze hinein und ließen Dicki darin probeschlafen. Mit diesem in doppeltem Sinne gewichtigen Gepäckstück, einem wasserdichten Beutel für gebrauchte Windeln, Koffern und einer hilfreichen Cousine, die mich durch die verdunkelten, schwer angeschlagenen Bahnhöfe Berlins schleuste, begab ich mich auf den Weg. Ich richtete ein Stoßgebet an Sankt Expeditus, der mich noch nie im Stich gelassen hatte, wahrscheinlich weil ich ihn nur in entscheidenden Augenblicken bemühte. Dieser goldige Heilige, auf dessen nachgedunkelter Tafel in einer alten bayerischen Kirche die Worte stehen: «Sanct Expeditus, sonderbahrer Patron für allerley Geschafften und Reysen» erwies sich nicht so sehr als sonderbarer, vielmehr als wunderbarer Patron — er brachte uns unverbombt, heil und ohne Bagageverlust bis Nürnberg. Dort lief sich der Wagen heiß, qualmte und wir mußten schnell hinaus. In der Eile stopfte ich Dicki mit dem Gesicht nach unten in die Leinentasche, aus der er dann auf dem unwirtlich kalten Bahnsteig gedämpft hervorheulte, während ein neuer Wagen eingeschoben wurde.
    Nach diesem Zwischenspiel — wir waren billig weggekommen — erreichten wir am nächsten Tag die kleine Kreisstadt, wo die Eltern mich in unterschiedlichen Graden der Besorgnis empfingen. «So, so — da ist er ja», sagte Papa, nahm den einen Henkel der Leinentasche und schaute sich den Inhalt an. «Er ist nicht übel. Die Oberlippe ist etwas lang.»
    «Sascha, komm jetzt, das Kind wird müde und hungrig sein», mahnte Mama.
    Zu Hause angekommen, entnahm ich schon vor dem Gartentor den Sohn seinem Behälter und zeigte ihm im Triumph sein künftiges Domizil. Die Wohnung in der Elisabethstraße

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