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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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es im Sommer an Hitze mit der Geständniskammer deutscher Raubritterburgen aufnahm, war nun, wenn ich nicht gerade den Herd heizte, eine Art luftiger Veranda, in der ich die Kartoffeln in gekrümmter Haltung, mit hochgezogenen Schultern und von einem Fuß auf den anderen tretend, schälte.
    Weil ich nur ein Mädchenlyzeum besucht habe, weiß ich nie, ob es Epiktet oder Aristoteles oder keiner von beiden war, der das mit dem «Alles fließt» gefunden hat. Jedenfalls gingen auch diese kältesten Monate vorbei. Eines Tages sagte Mama nach der Suppe: «Kinder, wer von euch hat denn nochmal im Kachelofen nachgelegt? Ich hatte ihn doch schon zugemacht?»
    Papa knöpfte seine Joppe auf und fühlte gedankenverloren nach, wie viele Jacken und Westen er darunter trüge. Das Wunder war geschehen: Es war wärmer draußen.
    Das Haus trat nun in ein neues Stadium: Es knirschte nicht mehr so sehr von dem vielen Viehsalz, das wir bei unseren Auftauversuchen verwendet hatten, sondern von der Asche, die wir auf die tags tauenden und nachts wieder frierenden Treppenstufen und Pfützen vor dem Haus streuten. Papa rutschte leicht aus. Ich betätigte auch nicht mehr so sehr meine Nase als vielmehr mein Ohr. Überall da, wo ich hoffte, Wasser plätschern zu hören, blieb noch lange alles totenstill, dafür rieselte es an manchen Stellen, wo es gar nicht sollte, zum Beispiel in der Wand oder im Zwischenboden. Lange Wasserzungen krochen unter der Scheuerleiste hervor. So brachten sich Rohre in Erinnerung, an die wir seit dem Hausbau nicht mehr gedacht hatten.
    Hinter dem Küchenausgang sackte der Schnee in sich zusammen. Mit dem Schlitten kam man nicht mehr durch. Mit dem Wagen aber auch noch nicht. Die Abfalltonne wurde schwer und schwerer, weil man sie nicht abtransportieren konnte. Vieles, was fest war, wurde zur Unzeit wieder flüssig, so zum Beispiel die Flasche mit Holzbeize, Farbe: dunkle Eiche, die sich aus dem Bastelschrank des Anbaubodens hervor ergoß. Am Seeufer erhob sich ein Knistern und Krachen, jaulende Sprünge liefen durchs Eis bis in unsichtbare Fernen, es rumpelte und sauste, als kämen D-Züge vorbei. Oft lief ich im hellsten Sonnenschein ans Ufer und rieb mir die Augen, als sei ich blind: Wo waren die Hexen, die da in Windeseile Schlittschuh liefen und ganz dicht, keine zehn Meter vor mir eine Pirouette drehten? Und dann kam der Sturm. Er zerschlug die Eisdecke und türmte die Schollen, die unangenehm an gewisse Vorkommnisse während der Reichskristallwoche in Berlin erinnerten, zu klirrenden Scherbenhaufen. Von den Glasbergen, die sich jeden Morgen ein klein wenig höher auf den Kies geschoben hatten und fast die Türen der Bootshütten eindrückten, ging eine Kühle aus, als hätte jemand in unserem Rücken einen Frigidaire geöffnet. Als in München schon in allen Vorgärten die Krokusse blühten, staken wir in Seeham noch zwischen tauenden Schneeresten und schmutzigen Maulwurfshügeln.
    Der Frühling kam langsam und zäh, der Schnee auf den Bergen schmolz sehr zögernd, und doch sah es aus, als sei schon jemand mit einer Teppichbürste den Bergen über die blaue, behaarte Waldbrust gefahren. Als der Bach vom Schmelzwasser gurgelte und sich verschluckte und die ersten totgeglaubten Fliegen hinter dem Geschirrschrank hervorkrochen, kam Bruder Leo. Es war wundervoll, ihn wiederzusehen, und er hängte auch gleich die Doppeltür vor der Veranda aus und verstaute sie. Er kniff Dicki und begrüßte ihn mit «Grüß dich, Bursch, verwahrloster!», was Dicki als Zärtlichkeit wertete, als die es gemeint war, und ihm krähend entgegenstrebte.
    «Na, und du», wandte er sich an mich, «zeig mal deine Hände. Sämtliche Nägel abgebrochen, was? — Ich hab’s ja gesagt, du wirst — wenn du erst mal keine Dame mehr bist — ganz brauchbar!»
    Mama hörte das nicht unbedingt gerne und versuchte, dem Gespräch eine heitere Wendung zu geben. «Nun, sie hat eben einmal einen Winter auf dem Lande kennengelernt. Wer weiß, wo sie nächsten Winter ist. Der Krieg kann ja nun wirklich nicht mehr lange dauern. Was meinst du, Leo?»
    Bruder Leo zog es vor, nichts zu meinen. Er machte mit mir die Runde um das Haus und ließ sich dessen Schrullen und Tücken auf zählen, ohne ungeduldig zu werden. Dann setzten wir uns zu Tisch.
    «Hat der Birnbaum am Anbau eigentlich gut getragen?» wollte er wissen.
    «Keine Spur», sagte Papa.
    «Was, keine Spur?» fragte Bruder Leo in berechtigter Empörung. Er ließ den Löffel in die Tomatensuppe

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