Ein Baum wächst übers Dach
sinken, knüllte seine Serviette neben dem Teller zusammen, entschuldigte sich und stand auf. Trotz Mamas lachender Proteste war der Baum in zehn Minuten abgesägt, dicht über der Wurzel. Leo klopfte sich die Elände ab und sagte: «Den Stumpen kannst du dann ausgraben, wenn du mal wieder eine Stinkwut auf deinen obersten Kriegsherrn hast. Der Pickel lehnt im Schuppen hinten links, die Kräfte hast du selber.»
Da nun wieder einmal für kurze Zeit das männliche Element in unserem Haus überwog, brachen meine Neigungen zu männlichen Dingen wie Wirtschaftsplanung, Vereinfachung, Rationalisierung usw. wieder durch. Ich machte den Versuch, den Knaben Dicki mittels selbstangelegter Zeittabellen zur Sauberkeit zu erziehen. Zugleich mit dem Töpfchen ergriff ich stets Bleistift und Papier und warf einen Blick auf die Uhr. So hoffte ich, mit der Zeit etwas seltener Windeln und Hosen im See spülen zu müssen. Leider war Dicki keine Maschine, in die man oben in geregelten Abständen etwas hineingoß, das in ebensolchen Abständen unten wieder herauskam. Bei Regen reagierte er anders als bei Dürre, nach einem langen Weinen anders als an vergnügten Tagen, ja sogar der Barometerstand schien etwas auszumachen.
Windeln sparte ich keine, aber ich verbrauchte viel Papier und Nerven. Als ich mit meinen Zeittabellen das ganze Haus verrückt gemacht hatte, telegrafierte ich an meine erfahrene Schwägerin: Wann werden Jungen sauber? Das Antwortkabel lautete: Um den Hals herum nicht vor dem zwölften Jahr! Bruder Leo grinste und suchte mich mit dem Hinweis zu trösten, daß die Samojedinnen sich all das, was ich aus den Windeln spülte, auch noch den Rücken entlanglaufen lassen müßten, weil sie das Kind die ersten drei Jahre nicht abschnallten.
Als Leo Abschied nahm, saß Dicki wieder ernsthaft im Kinderzimmer auf dem «Hohlmaß» und beschäftigte sich, gegen die Bodenkühle in Mamas ehemals elegantes Reiseplaid gehüllt, mit einem alten Papierkorb voller Bauklötze, Garnrollen und ausgebrannter Taschenlampen. Er amüsierte sich gut und saß eine volle Stunde, ohne das zu erledigen, was von ihm erwartet wurde.
«Bleib nur ruhig und atme tief durch», sagte Bruder Leo, «bis zum Abitur hat er es bestimmt begriffen.»
Das Frühjahr ging hin, der Sommer kam. Er war regnerisch, wie schon so oft. Schlechtgelaunt zeigten die Berge von Zeit zu Zeit ein halbes Gesicht und behielten einen Schal aus Regenwolken um den Hals. Bayern schien nur deshalb die Landesfarben Weiß-Blau zu haben, weil man sie am Himmel dort so selten sah. Daß mir das in München nie aufgefallen war!
Eines Nachts weckten mich Schritte auf dem Gartenkies. Es wollte doch um Gottes willen niemand an meine spärlichen Torfvorräte? Es war Michael auf Kurzurlaub. Er kam zu Fuß durch die Finsternis von der kleinen Kreisstadt, in der eine kriegswichtige Lokomotive ihn abgesetzt hatte, und troff von Regen. Ich umschlang ihn, feuchtete mir meinen Pyjama an seiner nassen Uniform gründlich durch und fragte wie immer: «Ist der Krieg aus?»
«Noch nicht», erwiderte er, «aber bald.»
Dann erst machte ich Licht und zog ihn herein. Er war sehr mager geworden und sah erschreckend edel aus. Natürlich hatte ich nur einen Rest Kartoffelsalat im Hause, meine Weißbrotmarken waren aufgebraucht und ich hätte dringend zum Friseur gemußt. Es war jedesmal das gleiche.
Nur im darauffolgenden Sommer gelang es mir einmal, rechtzeitig unterrichtet, Vorbereitungen zu treffen. Ich rannte vom Barometer zum Kleiderschrank und wieder zurück, stellte Blumen in alle Vasen und schrubbte den Wohnzimmerboden, der seit Jahren mit keinem Bohnerwachs mehr in Berührung gekommen war. Durch das Schrubben wurde er nicht besser, er glich dem Fleischhackbrett eines mittelalterlichen Gasthauses.
Als alles, aber auch alles getan war, zog ich Dicki seine besten Sachen an, wobei ich über seinen weißblonden Kopf hinweg den Dorfweg entlangspähte. Noch nie war ein Weg so leer gewesen. Es kam die Dämmerung und dann die Nacht. Michael kam nicht.
Am nächsten Tag legte ich mich nach Tisch auf die Couch, enttäuscht und ermattet. Ich hatte nachts kaum geschlafen, immer nur auf Schritte gehorcht. Sie erklangen dann um halb drei Uhr nachmittags, zu einer völlig unmöglichen Zeit, in der kein Omnibus ankam, und auch kein Zug in der kleinen Kreisstadt. Ich sprang auf, verwickelte mich in die Decke und stürzte Michael in des Wortes ureigenster Bedeutung entgegen. Die Nase blutete, und meine ersten
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