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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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mollig zentralgeheizte Räume angeschafften Kleider zu dünn.
    Mama zertrennte einige alte Pullover, und ich wickelte die Wolle auf. Die Flusen kamen uns beiden in die Nase, und lebhaft niesend besprachen wir unsere Garderobenfragen. Unsere Kleiderkarten gaben nichts mehr her.
    «Was wir brauchten», sagte Mama, «wären warme Winterdirndl. Ich habe gehört, daß man so etwas aus alten Herrenanzügen machen kann. Wie wäre es mit Papas Frack und Smoking?»
    «Tja», sagte ich, ließ das Wollknäuel sinken und dachte an Michaels Frack, der nun unter den Trümmern lag. Es widerstrebte mir, dem Moloch noch weitere Fräcke zu opfern. Dann aber fiel mir alles andere ein, das rings um uns vorging, und all das, was uns noch bevorstand, wenn nicht ein Wunder geschah. «Du hast ganz recht», sagte ich entschlossen. Mama sah mir genau in die Augen, wie ein Schütze nach der Scheibe, und sagte, ohne zu lächeln: «So ein Frack ist ja dann eines Tages schnell wieder gemacht.» Daran merkte ich, daß wir dasselbe dachten. Für dieses Haus war die Ära der Fräcke vorbei.
    Die Dorfschneiderin, die seinerzeit die unpassenden Knopflöcher gemacht hatte, nähte die Dirndl tadellos. Als Futter für die Oberteile verwendete sie die Seide von dem Kleid, in dem Mama so oft gemalt worden war.
    «Die Ärmel nicht zu lang», sagte ich bei der Anprobe, «sonst hat man immer Teig und Asche an den Manschetten.»
    Vorne auf dem Bauch mußte man den Stoff stückeln, die Hosen der Männer sind ja viel zu eng, aber das schadete nichts, darüber kam eine bunte Schürze. Hierzu eigneten sich die geblümten Vorhänge aus dem Gästezimmer sehr gut. Mama, die stets viel persönlichen Mut besaß, zerrte tüchtig daran. Nein, sie waren noch kein bißchen morsch, man konnte sie bestimmt noch verwenden.
    Diesem Zug nach unten war der ganze Haushalt unterworfen. Die schönen gestreiften Damast-Bettbezüge von Großmama bekamen seltsame Löcher und dünne Stellen in der Anordnung der bekanntesten Sternbilder. Sie wurden zertrennt und verwandelten sich, neu gesäumt, in Gesichtshandtücher. Die früheren Handtücher waren schleierdünn geworden, wurden zusammengelegt, versteppt und dienten als Küchentücher. Die Küchentücher wiederum verwandelten sich in Spüllumpen, und die ehemaligen Spüllumpen wurden in einen alten Samtvorhang gewickelt und zwischen die Doppelfenster gestopft, damit es weniger zog. Nur von der Spitze der Textilhierarchie kam nichts Neues mehr nach.
    Etwa Mitte Dezember streifte ich coram publico den linken Strumpf herunter und beklagte mich bei Mama, ich hätte Aussatz oder Beulenpest, besonders da an der kleinen Zehe. Mama warf einen Blick darauf und sagte, das sei ganz einfach eine Frostbeule. Sie gab mir eine Salbe, auf die hin es noch etwas schlimmer wurde. In mir erhob sich der Verdacht, daß unsere zeitgemäße Art, alte Wollstrümpfe auszutragen, an allem schuld sei. Mama schnitt nämlich die Fußteile der Strümpfe, die nicht mehr zu stopfen und schon zweimal vergeblich mit schlechterem Material angesetzt waren, einfach ab und machte einen Steg aus Gummiband daran wie bei Skihosen oder altmodischen Herrengamaschen. Darüber kamen die Wollsocken, die wir aus im Hause noch vorhandenen Stopfwollresten gestrickt hatten, dann die zu dünnen städtischen Schuhe und dazu die nassen Straßen Seehams und die scharfe Luft. Es konnte nicht gutgehen. Als ich zum Kalender trat, stand dort gedruckt: Winteranfang! Alles Bisherige fiel noch unter die Kategorie Herbst. Hätte ich Humor, so wäre dies Gelegenheit zu einem herzlichen Lachen gewesen. Draußen knarrte das Gartentor. Es kam eine Frau in brauner Uniform, grüßte mit erhobenem Arm und sagte, sie sei die NS-Gemeindeschwester. Ich hatte mir eingebildet, auf einem Dorf wie Seeham bedürfe man einer solchen nicht. Ich ließ sie erst einmal auf dem Korridor stehen. Mama, die stets großzügig und ritterlich dachte, raunte mir, während sie Dickis getrocknete Strampelhosen vom Kachelofen einsammelte, ins Ohr, die Frau könne schließlich nichts dafür. Wofür, wurde gar nicht erst erörtert. Ich bat sie herein, blieb jedoch kühl, litt es, daß sie Dicki mit ihrem Wollhandschuh ins Gesicht faßte und ihn als Garanten der Zukunft bezeichnete. Als sie ging, ließ sie ein Fläschchen Vigantol für ihn da. Da nirgends auf dem Etikett die Vorsilbe NS zu sehen war, gab ich ihm täglich einige Tropfen.
    Nach der braunen Frau kamen wochenlang nur die Krähen, die Häher, ein Buntspecht und ein

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