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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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nicht genommen. «Ma ko si doch net anschau’n lassen», hätten sie gesagt und erst nach einer halben Minute hinzugefügt, daß sie sowieso nichts hätten, weil das Schwein vorzeitig verschieden und die Hühner an einer «Sucht» reihenweise eingegangen seien.
    Bald aber wurde der Winter so gewalttätig, daß ich alle Kraft darauf konzentrieren mußte, ihm standzuhalten, und die Nahrungssorgen fast vergaß. Wir fanden in der alten Küchenkiste auf dem Boden einen flachen Achatstein mit herausnehmbarem Griff. Wer am meisten fror, legte ihn ins Rohr des Kachelofens, schlug ihn danach in eine Decke und setzte sich darauf. Über Mittag wurde er frisch gewärmt, und dann hüllte ich ihn in eines der zusammengesteppten Küchentücher und schob ihn mir vorne in den Rock. Schon die Griechen wußten, daß hinter dem Nabel die Seele sitzt und daß sich von dieser Stelle aus der ganze Mensch erwärmen läßt.
    Ich lernte, daß Westwind bei null Grad schlimmer war als zwanzig Grad Frost und Windstille. In letzterem Fall war fast mit Sicherheit auf Sonne zu rechnen, die ab neun Uhr früh durch die großen Fenster des Wohnzimmers hindurch bis zur hinteren Wand schien und eine Treibhauswärme erzeugte. Kalt blieb nur eines: meine Füße. Den ganzen Februar über bedauerte ich allabendlich, daß Nachtmützen aus der Mode gekommen waren, und zog mich zum Schlafengehen ebenso lustlos und sorgfältig an wie als Kind, wo ich zwecks sportlicher Ertüchtigung hatte Schlittschuhlaufen gehen müssen. Jetzt allerdings handelte es sich darum, nachts mehrmals in die Küche zu taumeln, um ein Stück Torf in den Herd nachzulegen, damit das Rohr im Kinderzimmer warm blieb. Es war, als lägen wir mit Old Shatterhand am Lagerfeuer. Wie Dicki gedeihen konnte, der sich allnächtlich der Decken entledigte und mit einem klatschnassen Strampelsack bedeckt dem Morgen entgegenschlummerte, blieb mir ein Rätsel.
    Seeham begann sich in zwei Kategorien zu teilen: Bei den einen floß das Wasser noch, lief aber nach unten nicht mehr weg, weil die Gullis eingefroren waren, die anderen mußten das Wasser vom Brunnen holen, aber die Abflüsse funktionierten noch. Die Mißvergnügteren waren die von der ersten Kategorie. Es deprimiert sehr, so in Kontakt mit den eigenen Abfallprodukten zu bleiben. Wir konnten ein Lied davon singen. Unser Wasserreservoir oben auf dem Boden hielt durch. Der viele Torfmull, der Bruder Leos Atemwege verstopft hatte, als die Arbeiter ihn als Isoliermaterial verwendeten, hatte sich gelohnt. Dennoch schien es mir oft, als bliebe nicht nur das Wasser in den Abflüssen, sondern auch die Zeit stehen. Der Holzvorrat im Schuppen belehrte mich eines Besseren: er nahm rapide ab. In meiner Angst fing ich an, Holz zu sparen. Der Kachelofen wurde noch warm, das Zimmer nicht mehr. Papa erfand einen neuen Tanzschritt, den sogenannten Ofenhupf. Kein Choreograph hätte ihn verwendet, aber er bereicherte das Familienleben ungemein. Papa trat als erster an den Kachelofen, hielt sich an seinem oberen Rand fest, Mama ergriff Papas Joppe, die er fast nie mehr ablegte, ich ergriff Mamas Wolljacke, in die wir Ärmel aus ertauschter Schafwolle gestrickt hatten, und wir hüpften zugleich, rhythmisch und so lange, bis uns warm war. Da wir dazu noch alle lachen mußten, geschah wirklich etwas Positives für unseren Blutkreislauf. Dicki war von dieser Übung noch ausgeschlossen und beteiligte sich erst zwei Jahre später daran. Vorläufig saß er krähend in einem geliehenen Kinderstühlchen, das wir auf einen der noch immer zahlreichen Fichtenholzhocker montiert hatten. Wir hatten ihn damit auf einer Höhe, in der es wärmer war und er selber strategisch leichter zu regieren.
    Die Isolierkraft des kleinen Fensterladens vor dem Fliegengitter des Speiseschrankes hatte ich überschätzt. Die Eier sprangen samt und sonders, die Butter wurde so hart, daß man sie hätte als Waffe benutzen können. Völlig neuartige Haushaltsfragen tauchten auf, die kein stockig riechendes Ganzlederbuch beantwortete: Wohin sollte ich einen Block gefrorene Magermilch legen, um ihn mit dem Beil zu zerhacken? Der Hackklotz im Schuppen war zu schmutzig, und der Marmortisch in der Küche sprang bestimmt. Wenn das zum Abspülen eingeweichte Geschirr in der Spülschüssel zusammengefroren war: wie taute man es am schnellsten auf, ohne daß die untersten Teller dabei sprangen? Auf dem Kachelofen war niemals Platz, dort trocknete, wärmte und zerging so vieles andere. Die gleiche Küche, die

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