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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Worte nach Monaten des Hoffens und Harrens waren: «Himmel, leih mir mal dein Taschentuch!»
    Wir hatten uns für die wenigen Tage den Anbau eingerichtet, um das Ehepaar mit Doppelzimmer spielen zu können. Alles war vorgekocht und gut organisiert. Dennoch wurde man seines Lebens keinen Augenblick froh. Irgendwo lief eine Taxameteruhr, die einem die Minuten zuzählte. Man hörte sie nachts oder wenn man tags die Augen schloß. Es war unglaublich schwer, schweigend miteinander im Garten zu sitzen und nichts zu tun, wirklich und wahrhaftig nichts, einander nicht zu liebkosen, nicht von der Zukunft zu sprechen, keine strategischen Zeichnungen in den Kies zu kratzen und keine Musik zu hören. Und doch waren das die einzigen Momente, in denen die Taxameteruhr leiser tickte.
    Natürlich machten wir außerdem Radtouren und lasen Bücher miteinander. Der Zeitdruck ließ beides etwas hektisch werden. Da außerdem die dünnen Kleider viel hübscher waren als die alten, verwaschenen Pullover und der Sommer so kühl, kamen Überanstrengung und Unterkühlung zusammen: alles Trennungsweh versank in einem gewaltigen Schnupfen. «Gute Besserung» war Michaels Abschiedsgruß. Mit tränenden Augen und laufender Nase stand ich auf der Veranda hinter den Blumenkästen, die mittlerweile dringend eines Anstrichs bedurft hätten, und sah Michael nach. Schon jetzt fiel mir ein, was ich alles zu fragen vergessen hatte. Dicki, auf Papas Schultern sitzend, winkte mit beiden pummeligen Patschhändchen, nahm seinen neuerworbenen Wortschatz zusammen und rief, ehe Michael hinter der Linde am Bach verschwand, freudig bewegt: «Papi! Geh weg!»
     
     
     

8
     
    Dickis zweiter Geburtstag war ein schöner Tag, der sehr früh morgens begann. Flamingorosa Federwolken standen im Osten wie eine über den Bergen zerrupfte Riesenchrysantheme, als ich zu dem schon begeistert in seinem Bett hopsenden Geburtstagskind hineinging. Dicki war bereits vor Tau und Tag fleißig gewesen und hatte das Bettgestell und sich selber reichlich mit Borvaseline bestrichen. Warm und zärtlich umhalste er mich und schwatzte wie ein Star. Als ich ihn sauber hatte und in die Küche trat, um seine Schwarzmehltorte mit Apfelmus zu füllen und mit Marmelade zu verzieren, miaute es draußen kläglich. Ein kleiner schwarz-weißer Kater bat um Einlaß. Er war pudelnaß und schien ohne Erfolg ertränkt worden zu sein. Ein Geburtstagsgeschenk vom lieben Gott? Ich trocknete ihn ab, sperrte ihn in Großmamas alten Picknickkorb vom obersten Boden und setzte ihn auf Dickis Gabentisch. In meiner Kamera befand sich noch ein unwiderruflich letzter Film. Der Kaufmann hatte keine mehr, und es bestand keine Aussicht auf weitere.
    Damit Michael auf den Fotos auch die Details möglichst deutlich erkennen sollte, trugen Mama und ich den Geburtstagstisch vor die Veranda in die helle Sonne. Wir gruppierten die Schwarzmehltorte, den bescheidenen Baukasten und das mit altem Inlettstoff bezogene Eichhörnchen auf dem Tischtuch und bauten Dicki in seinem hohen Kinderstuhl dahinter auf. Er saß kaum, da hob er mit wichtiger Miene beide Fäustchen. «Bub-bub-bub!» sagte er und horchte.
    Es war nicht zu leugnen, in nördlicher Richtung donnerte es, die Erde bebte. Die Ärmsten, die es an einem so schönen Morgen wieder auf den Kopf bekamen.
    «Dicki, nun sitz doch still», rief ich, «sieh mal, hier kommt gleich das Vögelchen!» Ich hatte noch die Augen im Sucher, da klappte das Gartentor. Es kam kein Vögelchen, sondern Bruder Leo. Er grinste breit und trug in seiner Rechten einen Koffer, in der Linken ein Bündel dünner Stangen. Erst als wir ihn umarmten, stellten wir fest, daß er durchdringend nach Rauch roch, vollständig unrasiert war und daß seine Augen zu tief im Kopfe lagen.
    «Leo, ich bitte dich», rief Mama und ließ Dicki, der der neuen Katze nachstrebte, zu Boden gleiten, «ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Warst du bei dem schweren Angriff in München?»
    «Welchen meinst du», fragte Leo munter, «einer davon dauert nämlich noch an. Ich bin durch einen Zufall dort heraus und heil hier.»
    Er ergriff Mamas schöne Hand, die des Gemüseputzens wegen keine Ringe mehr trug, und führte sie leicht über die Oberfläche des Vulkanfiberkoffers. Der knisterte, war grau bestaubt und der Griff war angesengt.
    «In diesem Koffer ist das Zeug, das ich in München untergestellt hatte», gab Leo Auskunft. «Und wozu sind die Stangen?»
    Bruder Leo setzte den Hut ab, holte sich ein Glas

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