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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Hase Der Hase schien eine schwere Neurose zu haben. Pünktlich zur Mittagszeit hoppelte er in den Garten und raste dann wie ein Narr innerhalb der beschneiten Hecke auf und ab. Vielleicht übte er Kurzstreckenlauf.
    Draußen wurde es still und immer stiller. Manchmal fuhr ich mir mit dem Finger ins Ohr, um zu fühlen, ob ich etwa Watte darin hätte. Die Weiden am Seeufer bedeckten sich mit Rauhreif und entwickelten eine ungeahnte Schönheit. Der Nebel deckte die Umrisse der Berge zu und ließ hie und da einen sonnenbestrahlten Gipfel erkennen oder umrahmte einen einzelnen bereiften Zweig und eine auf fliegende Wildente wie auf einem japanischen Farbholzschnitt. An klaren Sonntagvormittagen waren plötzlich unbekannte Glocken zu hören, so nah, als stünden ihre Kirchtürme dicht hinterm Wald. Vielleicht wollten sie sich in Erinnerung bringen, damit man in Gedanken noch einmal die einsamen Landstraßen entlang zu ihnen hinfand, ehe der Schnee sie begrub.
    Zunächst fiel er in kleineren Portionen. Papa und ich kehrten ihn von den Gartenwegen weg, wobei wir den Kies gut und reichlich auf den Rasen hinüberwarfen. Wenn zum Schneefall noch Sturm gekommen war, nahm ich morgens einen Rechen und schüttelte der armen Ligusterhecke die Schneelast ab, unter der sie fast zu Boden ging. Sie richtete sich dankbar auf, und ich ging patschnaß in mein Dachkämmerlein und zog mich bis aufs Hemd um.
    Als der Schnee so hoch geworden war, daß man mit dem Besen nicht mehr durchkam und eine alte morsche Schaufel aus Holz vor sich herschieben mußte, um zum Gartentor vorzustoßen, merkten wir, daß im Holzstoß hinterm Haus ein Hermelin wohnte. Mein erster Gedanke war eine Mütze für Dicki, aber dann überlegte ich es mir anders. Das Fell war zu klein, und das Hermelin machte so nett Männchen, wobei es sich aufbäumte wie eine bepelzte kleine Schlange und mich intensiv und ein wenig verächtlich musterte.
    Nach dem Schnee kam die Kälte. Der eisige Geruch des Weltalls senkte sich auf uns nieder, und ging man einkaufen, hatte man das Gefühl, als wüchse einem etwas Zottiges in der Nase. Die Bauern sagten, wenn jetzt nicht bald ein Wind käme, dann wäre es gefehlt. Ich verstand sie nicht.
    Vom See war so wenig zu merken, als sei er gar nicht mehr da, und eines Morgens war er es auch nicht mehr: eine einzige stumpf graue Eisfläche, soweit das Auge reichte. Hoch oben am aschenfarbenen Himmel tummelten sich Entenschwärme, die nicht mehr zu Wasser konnten. Es klang, als würden kleine Glöckchen geschüttelt. In der offenen Stelle bei der Bachmündung hinter der Mühle drängten sich Wasservögel der verschiedensten Gattungen. Sie vertrugen sich auf dem engen Platz nicht besser und nicht schlechter als die Bombenflüchtlinge und Evakuierten mit den Einheimischen in Seeham.
    «Jetzt», sagte die Schmiedin, die mit in die Schürze gewickelten Armen am Ufer stand und über das Eis hinsah, «jetzt ham’mer Ostern um an Monat spater.»
    Ich ging in die Küche und suchte im Brotkasten nach Resten, die ich den Vögeln bringen konnte, ohne den Kalorienhaushalt meiner Familie zu gefährden. Nicht ohne Bitterkeit dachte ich an die Briefe meiner Freunde aus Berlin, in denen stets der Passus abgewandelt wurde: «Wie gut hast du es doch, in einem oberbayerischen Dorf zu wohnen, wo Milch und Honig fließen.»
    Nun, was in Seeham floß, war nur entrahmte Frischmilch, jener Stoff, der beim Verschütten auf dem Mantel keine Flecken hinterließ. Wir hatten bei den Bauern, was die Nahrungsbeschaffung anbelangte, ein viel größeres Handicap als andere. Uns gegenüber, die wir schon viele Jahre zu ihren Mitbürgern gehörten und noch ebenso lange gehören würden, wollten sie ihr Gesicht nicht verlieren. Es verursachte ihnen weniger seelische Beklemmungen, wenn überhaupt welche, einem durchreisenden Hamsterer, den sie nie wiedersahen, für ein Ei eine Reichsmark abzunehmen, als mir zu einem nur wenig erhöhten Preis eins zu überlassen. Sie hatten die Arbeit und die Last mit dem Federvieh und wandelten den Spruch, «Genießen wir den Krieg, denn der Friede wird fürchterlich», auf ihre Weise ab. Das einzige, worin wir den Städtern überlegen waren, blieben die Kartoffeln, in Bayern auch Erdäpfel oder Grundbirnen genannt.
    In benachbarten Ortschaften gelang es mir manchmal, gestickte reinleinene Kaffeedecken oder Waschgeschirre aus Großmamas Zeiten, die noch in der Elisabethstraße gestanden hatten, in Eßbares zu verwandeln. Die Seehamer hätten sie

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