Ein Baum wächst übers Dach
Fettleibigkeit noch führte.
Ob nun infolge der fachmännischen Broschüren oder infolge Leos unermüdlichen Liebedienereien vor unserem Stück Erde: der Tabak ging auf und wurde hoch und grün. Über seine weitere Behandlung bin ich nicht berufen, Bindendes auszusagen. Die alten Blechdosen mit Tabakblättern, die in jedem Ofenrohr standen und mit geheimnisvollen Lösungen besprengt wurden, bildeten das einzige Spielzeug und Gesprächsthema der Männer. Sie zogen mit den frischen, den getrockneten, den halb fermentierten, ganz fermentierten, stinkenden und nicht stinkenden, warmen und kalten Päckchen im Hause umher, schnitten sie in einer eigens angeschafften Tabakschneidemaschine, und schließlich rauchten sie sie auch. Es dauerte kein halbes Jahr, da hatte Papa einen Magenkatarrh. Leo war jünger und hielt länger durch.
Er schonte sich nicht, wenn es um den Garten ging. Um korrekt zu sein: er schonte auch seine Schwester nicht. Streit bekamen wir nur dann, wenn wir uns nicht einig werden konnten, ob es Sandflöhe oder Maulwurfsgrillen gewesen seien, die die kümmerlichen Reste unserer Buschbohnenplantage aufgefressen hatten. Die Säckchen, die wir für die trockenen Bohnen aus meinen rosa Batisthemden der Pariser Zeit genäht hatten, blieben leer.
Der Krieg war gänzlich total geworden. Man merkte es auch bei uns. Wenn wir mit unseren Haushaltsscheinen und einem Leiterwagen am jenseitigen Ende des Dorfes beim Kohlenschuppen ankamen, gab es nur noch schwarzen Staub in Säcken und dazu einen gedruckten Handzettel, wonach man aus diesem Staub unter Zuhilfenahme von ein wenig Wasser selbst Briketts formen solle. Diese, so hieß es, trockneten in wenigen Tagen.
«Ja, aber wo denn?» rief Mama, und echte Verzweiflung schwang in ihrer Stimme, «wo um Gottes willen sollen wir die denn trocknen und vor allem formen?»
«Aber Mama, das ist doch ganz klar», sagte Leo und seine Augen funkelten fröhlich, «auf dem roten Bucharateppich natürlich. Wozu heben wir den eigentlich immer noch auf?»
Mama wedelte ihn mit einem stark gestopften Küchentuch lachend aus der Küche, und wir füllten später den Kohlenstaub partieweise in eine alte Blechdose mit der Aufschrift Allerhand Feines. Von dort heizten wir ihn vorsichtig mit dem Eßlöffel in die Kachelöfen, wenn ein Holzfeuer darin brannte.
Das war es. Holz brauchte man vor allem. Zunächst taten wir das Nächstliegende, wir gingen von Hof zu Hof und boten Geld und gute Worte für Holz. Selbstverständlich betraten wir nur solche Höfe, an deren Südwand sich schätzungsweise fünfzehn Ster pulvertrockenes, jahrealtes Holz bis zum Dach stapelte. Unter diesen wiederum kamen nur solche in die engere Wahl, mit deren Bewohnern wir intim waren oder zu sein glaubten und die über ausgedehnte eigene Waldungen verfügten.
Es scheint fast unnötig zu erwähnen, daß unsere Bittgänge ergebnislos verliefen. Bruder Leo hatte den Wert des Geldes überschätzt, ich den Wert der guten Worte, und die Eltern, die uns ausgeschickt hatten, den Wert dreißigjähriger Beziehungen.
Wie man mich von Kind an gelehrt hatte, suchte ich die Schuld bei uns. Es war natürlich unverzeihlich töricht von uns, daß wir uns stets mit Künstlern, Musikern und gebildeten Menschen verheiratet und befreundet hatten. Erst neulich hatte Leo mich mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt, wann endlich ich ein Gspusi mit einem Fleischermeister anfinge.
Während ich vor dem Ofen kauerte und die feuchten Tannenzapfen hineinschob, die zusammen mit dem gelegentlich explodierenden Kohlenstaub für Abwechslung innerhalb des Kachelofens sorgten, überlegte ich, ob es wohl schon zu spät im Dritten Reich sei, um nun noch ein gesellschaftliches Treiben mit Kohlenhändlern und Molkereibesitzern anzufangen. Wie würde es nächsten Winter werden, selbst wenn — schwindelerregender Gedanke — der größte Krieg aller Zeiten zu Ende sein sollte? Kürzlich hatte mich eine Bäuerin, deren Frömmigkeit nur noch von ihrer Dummheit übertroffen wurde, im Dunkeln angesprochen. Sie hatte vergeblich versucht, in unserem Seehamer Kramladen einen Stoff zum Schürzenausbessern zu bekommen. «Du», tuschelte sie, «du bist doch so vui im Ausland g’wen. Jetzt sag amal — wenn nacher da Hitler geht, gibt’s nacher an Baumwollstoff?»
Ach nein, es stand zu befürchten, daß des Lebens Überfluß in Form von weißem Zwirn, Nägeln, Strickwolle, Zucker und Buchenholz nicht gleich hinter dem Endsieg einherrollen würde. Bruder Leos
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