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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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reagierte auf diesen Gruß meist mit einem erschütterten «Menschenskind! Wo kommen Sie denn her?»
    In der ersten Viertelstunde wechselseitigen Berichtens erfuhr man, wer von den Freunden das Kriegsende überdauert hatte und wo. Wenn die Männer bei ihrem anscheinend wichtigsten Thema, der Aufbereitung von selbstgebautem Tabak, angelangt waren, entwichen Mama und ich in die Küche, und vor der geöffneten Speiseschranktür entspann sich ein geflüsterter Dialog etwa so:
    «Glaubst du, daß er zum Essen bleibt?»
    «Sicher! Könnte er eventuell übernachten?»
    «Ja, gern, bloß wo?»
    «Nein, Grießbrei heute abend geht nicht, ich brauche die Magermilch morgen für die Knödel!»
    «Brotpudding vielleicht?»
    «Ja, wenn er Brotmarken mit hat. Ich kann ihn ja nicht gut danach fragen.»
    Für mich als Köchin hieß es meist: Augen zu und durch. Manchmal hatte man Glück, und dafür, daß man das letzte Glas eingemachter Gurken geopfert hatte, ließ der Gast ungeahnt viele Weißbrotmarken da. Sicher aber war das natürlich nie.
    Zu keiner Zeit war es so schwer, die Grundregeln der Gastfreundschaft und der Bibel zu befolgen, wie in der ersten Nachkriegszeit. Brich dem Hungrigen dein Brot, gewiß, aber es ist so unangenehm, wenn man dann bis nächsten Montag keines mehr hat.
    Im Gespräch mit den Gästen zeichnete sich auch allmählich etwas ab, wovon im Familienkreis nie gesprochen wurde: die Zukunft. Es war klar, daß wir die Eltern hinfort nicht mehr unbetreut in Seeham lassen konnten.
    «Verstehst du», sagte Bruder Leo abends hinter dem Haus beim Holzhereinholen, «es ist eine ganz einfache Rechnung: Sie sind gerade um das älter geworden, um das die tägliche Wirtschaft sich erschwert hat. Ich muß wieder weg und meiner Nahrung nachgehen, amerikanischer Nahrung wahrscheinlich. Wer macht dann den Hausknecht?»
    In seiner angeborenen Liebenswürdigkeit gab Michael vor, sich schon als Kind ein Haus in Oberbayern gewünscht zu haben.
    Ich schaltete mich ein: «Aber ich habe doch vor dem Kartoffelkäfer geschworen, dorthin zu gehen, wo du hingehst!»
    «Nun vergiß das mal», unterbrach Bruder Leo, «und freu dich, daß er dorthin geht, wo du sowieso schon bist. Komm, Michael, ich zeige dir, wie man die Jauchegrube aufmacht, wenn sie sich verklemmt hat.»
    Bruder Leo packte schon seine Sachen, als die Nachricht uns erreichte, daß jene Fabriken im Ausland, von denen noch gelegentlich die spärlich tröpfelnden Gelder für die Eltern eingetroffen waren, den Weg aller außerdeutschen Fabriken gegangen seien: die eine war von den Russen enteignet, die andere dem Erdboden gleichgemacht. Leo schlug vor, mit den noch vorhandenen Aktien das Atelier zu tapezieren, dort zöge es immer so; Mama war zu erschrocken, um zu lachen. Mit blassem Gesicht saß sie im Sessel im Wohnzimmer und massierte ihr Knie, als sei ihr jemand drangestoßen. «Nun», sagte Papa philosophisch, «dann war es eben ein Traum!»
    «Ja, aber Sascha», sagte Mama, «wir werden künftig womöglich von der Kunst leben müssen, und das, du weißt ja...»
    Papa nahm sich ein Fruchtbonbon aus dem Mittelschubfach des Schreibtisches. «Wir haben ja das Haus, vorläufig regnet es ja noch nicht auf uns», sagte er, hakte sorgfältig die Angel von den Nägeln an der Verandawand und ging fischen, froh, von keinen feindlichen Flugzeugen und keiner deutschen Flak mehr daran gehindert zu werden.
    Eine Stunde später wurde mir schlecht. Ich dachte, es handle sich um einen jener Fälle psychischer Zeitzündung, die nach schlimmen Nachrichten oft eintreffen. Dann jedoch dämmerte mir der wahre Sachverhalt. Ich ging ins Balkonzimmer. Michael saß an seiner Reiseschreibmaschine, ganz still, die Hände auf den Tasten. Auf dem eingespannten Blatt stand eine römische Eins und ein Punkt dahinter, sonst nichts. «Der Abfalleimer», sagte ich und brach in Tränen aus, «der Abfalleimer stinkt wieder!» Diesmal hatten wir keinen Frack und keinen roten Sekt. Wir hatten auch nur noch ein halbes Dutzend ganz zerwaschene Windeln und einen vergilbten Strampelanzug von Dicki. Woher sollten wir alles nehmen, was wir nun brauchten, und woher das, was wir am allermeisten brauchten: Mut! Eines aber bekamen wir immerhin: ein paar zusätzliche Nahrungsmittelkarten und einen halben Liter Vollmilch täglich. Sie reichten nicht weit, obwohl der Vetter wieder abgereist war und Leo sich dazu bereitmachte.
    «Also mach’s gut», sagte er zu Michael, ihm freundschaftlich die Schulter massierend.

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