Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
Zeit zu Zeit aufs Gesicht. Dadurch ernüchtert, rettete er sich schließlich auf die Zementstufen hinter unserer Küchentür und kotzte. Papa, der gerade früh um zwei Uhr im Konversationslexikon nachsehen wollte, wann Cimabue geboren ist, ging im Pyjama hinaus, um zu prüfen, wem denn da so schlecht sei. Es war ein junger Mann aus Massachusetts, bleich und übelriechend, der in der Regennacht den Weg in sein Lager nicht mehr fand. Papa fürchtete, der völlig durchnäßte Knabe könne Lungenentzündung bekommen, zog einen Sommermantel über und nahm ihn unter den Arm. Die paar hundert Meter bis zu den Zelten wurden sehr anstrengend für ihn. Vor jedem Apfelbaum sank der zerknirschte Sünder in die Knie, weil er ihn für ein Kruzifix hielt, schlug sich an die Brust und wollte beichten. Papa mußte jedesmal mit ihm hinunter in den Schmutz.
    Der Lagerposten rief mürrisch: «Who’s that?» und leuchtete dem seltsamen Paar mit der Laterne ins Gesicht. Papa, mit nasser, lilagestreifter Pyjamahose und verbeultem Hut, sah sehr vertrauenerweckend aus. Der Soldat weniger, aber er wurde vereinnahmt, obwohl er gar nicht in dieses Lager gehörte. Der Posten konnte es nicht mitansehen, wie Papa über die vielen Zeltpflöcke und Lafetten stolperte und brachte ihn seinerseits nach Hause. Der Wettkampf der Höflichkeiten dauerte bis etwa früh um drei Uhr.
    Nach weiteren vier Wochen packte das Lager unter Motorenlärm und Unruhe seine Zelte wieder zusammen. In der Abenddämmerung — es war ein lauer Sommerabend und zwischen den Uferweiden stiegen und sanken die glimmenden Funken der Glühwürmchen — kamen die netten Jungens durch die Küchentür geschlichen. Sie legten eine Militärdecke auf die Kellerklappe, in die Candy, Konservendosen und Zigaretten eingeknotet waren wie in das Bündel von Santa Claus, und sagten uns Adieu. Papa schenkte einem von ihnen ein Bild von der Aussicht, die sie täglich genossen hatten, wenn sie sich am Ufer rasierten. Der beschenkte Sergeant diktierte Namen und Dienstgrad, und Papa schrieb sie mit Blaustift hinten auf das Bild, damit niemand annähme, es sei irgendwo gestohlen. Mit Michael tauschten sie einen kernigen Händedruck, der allen Frontkämpferverbänden das Herz erwärmt hätte, hoben Dicki ein letztes Mal empor und verschwanden.
    Hinter ihnen blieb ein Kielwasser des Wohlwollens für Amerikaner zurück, viele ausgehobene Gräben und Gruben, Abfallhaufen, die noch tagelang schwelten, ein ausgebranntes Motorboot, mit dem ein verunglückter Versuch zum Schleppangel-Fischen auf dem See gemacht worden war, und ein amerikanischer Warenhauskatalog von der Dicke eines Telefonbuches: «Sears and Roebuck, Order by mail.» By mail ordern konnten wir zwar nicht, aber wir zogen uns mit diesem Konvolut oft stundenlang zurück, um das sogenannte Wunschtraumspiel zu spielen.
    «Los», sagte Michael, «du hast heute tausend Dollar bei mir gut. Aber hübsch aufschreiben, damit du sie nicht überschreitest. Auf Seite 834 ist eine Bestellkarte eingeheftet!»
    Wir setzten uns zusammen auf die Couch und ich strich an. Die Bestellkarte reichte natürlich niemals aus, denn außer Kleidungsstücken, Küchengerät, Matratzen, Gladiolen Regenbogenprachtmischung, Parfüms und dergleichen brauchte ich ja auch handfeste Dinge: eine Gartenkarre, eine Segeljacht, einen Cadillac, eine Dünndruckausgabe von Churchills Memoiren und zwei Paar Gummihandschuhe. — Die Gummihandschuhe waren das einzige, was ich eines Tages wirklich bekam, aber auch damit dauerte es noch drei volle Jahre.
    Das Lager war verschwunden. Frei schweifte das Auge desjenigen, der in der offenen Küchentür Eierschnee schlug, über die leeren Wiesen. Das Gras wuchs auf den kahlgetrampelten Stellen. Das Getreide schloß sich über den Bahnen, die die Trucks der Amerikaner abkürzungshalber hindurchgelegt hatten. Mit viel Kies ließ auch der Feldweg sich reparieren. Die Dorfjugend grub noch lange nach brauchbaren Resten und Konservendosen in den Abfallhalden.
    Noch einmal kamen uniformierte Amerikaner nach Seeham, aber ach, sie waren diesmal anders, so ganz anders. Mit dem Auftrag, nach Waffen zu suchen, betraten sie die Häuser, und man trug uns rechtzeitig zu, daß die Sehnsucht nach Souvenirs groß und alter Schmuck bei der Gelegenheit nicht ganz sicher sei. Es hätte mir leid getan um die wenigen Stücke von Urgroßmama, die alle Unbill bisher überdauert hatten. Ich legte sie daher an und mich selbst in einen Liegestuhl in den Garten. Zufällig

Weitere Kostenlose Bücher