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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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«Oben im linken Schubfach vom Basteltisch ist noch ein Satz Werkzeug unter Verschluß. Der ist für dich. Das reguläre wird dein hoffnungsvoller Sohn sowieso spätestens im Herbst im Garten verspielt haben.»
    Da die Stromsperre zu unvorhersehbaren Tageszeiten auch unter der Demokratie weiterging, richtete Michael als erstes eine Notbeleuchtung aus jenen elektrischen Resten ein, die das Kriegsende uns beschert hatte. Sie funktionierte und blieb mir ein Rätsel.
    «Woher kannst du so was?» fragte ich Michael. «Ach», erwiderte er und warf die Haare aus der Stirn, «ich hab mal Elektriker gelernt.»
    Er schien es im Ernst gelernt zu haben. Es gelang ihm neben seinen Hausknechtsarbeiten auch noch, die Reparatur sämtlicher Radios der Umgebung zu übernehmen und seine kleine Familie damit über Wasser zu halten. Wie andere die Sprache der Vögel verstehen, so verstand er die der Schaltpläne. Im Dachgeschoß des Anbaus stank es nach Lötzinn, und überall verwickelte man sich in Drähte. Bekannte und unbekannte Bauern stolperten unsere Verandastufen herauf und trugen auf ihren Armen den Radioapparat wie ein krankes Kind. Bald tönten die verstummten Kisten wieder, und das für Michael Schwierigste war dann, ein angemessenes Honorar zu fordern.
    «Und woher kannst du so gut rudern?» fragte ich über die Schulter, wenn wir nach der Flußmündung am jenseitigen Ufer um Holz unterwegs waren.
    «Ich bin früher mit den Fischern auf Dorschfang ausgefahren, an der Ostsee», sagte Michael bescheiden. «Bitte zieh nicht so nach rechts, sonst kreiseln wir.»
    Ich legte die Ruder ein und drehte mich auf der Bootsbank um, um mir den Mann genau anzusehen, den ich so gut zu kennen geglaubt hatte. «Mensch», sagte ich spontan, «hab ich mit dir ein Glück gehabt!»
    «Du ehrst mich tief», sagte Michael und zeigte sämtliche Zähne bis zur Goldplombe.
    Das Heizmaterial, das der Fluß nicht heranschaffte, lag in Gestalt von Tannzapfen im Walde. Ich war gewiß rasch im Sammeln, Michael aber hatte das Tempo eines Dampfpfluges. Nur nahm er alles, was ihm vor die Nase kam, auch die qualitativ minderwertigen Zapfen, die schon von den Eichhörnchen bekaut worden waren. Meine aber waren fett, glänzend und schöngeformt. Es war ein Jammer, daß man sie nicht auch noch essen konnte.
    Bei allem und jedem dachte man ans Essen. Im Einschlafen träumte man von runden Bauernbroten, manchmal auch einfach von einem Riesenteller Schlagsahne. Am Morgen nach so einem Traum fiel mir zum ersten Mal auf, wie hoch der Weizen schon stand. Ich ging schlendernden Schrittes in die Felder.
    Die Weizenähren abzureißen war nicht ganz so leicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie gingen schwer vom Halm und zerschnitten einem die Hände. Sie mit der Linken festzuhalten und mit der Rechten eine Schere zu führen sah schon von weitem so verdächtig aus, daß es nicht in Frage kam. Am besten bewährte es sich, einen Handschuh anzuziehen und raschen, harmlosen Schrittes einen Feldrain entlangzugehen, eine geräumige Tasche mit langen Henkeln am Arm, in der man blitzschnell etwas verschwinden ließ. Ein Rest von Gerechtigkeitsgefühl hinderte mich daran, einem einzelnen Bauern die Last meiner Ernährung aufzubürden, und so verlor ich viel Zeit damit, mehreren voneinander entfernt liegenden Äckern Muster zu entnehmen. Die Landschaft um das Dorf, die ich so genau zu kennen geglaubt hatte, ordnete sich zu einem neuen Muster: dem Muster der Weizenäcker. Wie groß sie doch waren, wenn man einmal den Weg verlassen hatte! Ihre windbewegte, nach Brot duftende Weite, von der zitternde Hitzewellen aufstiegen, war auch dann schön, wenn man sich ihnen bedrückten Herzens und in nicht eben korrekter Absicht näherte.
    Leider mußte man immer dann nach Hause, wenn es am schönsten war. Wurde die Tasche allzu rundlich, bestand Gefahr, daß jemand Unbefugter ihren Inhalt identifizierte. Zu Hause wurde sie in eine Schüssel geleert und die Körner aus den Ähren gerieben. Die wahre Arbeit begann erst dann. Jedes einzelne Korn mußte mit den Fingernägeln enthülst werden, als sei es ein Sonnenblumenkern. Weder das Stampfen noch das Schütteln bewährte sich, wohl weil wir aus naheliegenden Gründen den äußersten Reifegrad nicht abwarten konnten.
    War der Weizen wirklich reif, so kam man morgens oft enttäuscht an ein inzwischen gemähtes Feld und mußte mit dummem Gesicht und herzlichem Grüßgott an den dort arbeitenden Besitzern vorübergehen.
    Papa kam auf die Idee,

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