Ein Baum wächst übers Dach
kam nur eine kleine Vorhut, die sich auf meine freundliche Aufforderung hin zwischen die Johannisbeerbüsche kauerte und sich erst einmal an frischem Obst sattaß. Ihre ewigen Konserven hingen ihnen sichtlich zum Hals heraus. Das Haus betraten sie nicht.
Was nun noch gelegentlich in Seeham herumwimmelte, waren nur mehr Uniformierte, die irgendwie zur CIC gehörten, die tschechisch, ungarisch oder jiddisch sprachen und sich nirgends so recht beliebt zu machen verstanden. Noch immer war Ausgehverbot, was niemanden störte. Als braver Seehamer war man ja sowieso um die Stallzeit zu Hause. Die Verdunkelungsvorhänge, seien es geplünderte Decken oder anderes Textil, wurden abgenommen. Mama und ich fragten einander erstaunt, ob das Zimmer immer so hell und kalt ausgesehen habe.
Nun schien uns der Zeitpunkt gekommen, die während der Apotheose des Dritten Reiches vergrabenen Preziosen der Familie wieder aus dem Kiesplatz vor der Veranda auszugraben. Gespannt standen wir im Kreise. Papa, mit hochgezogenen Schultern, versuchte sein heimliches Lachen dadurch zu verbergen, daß er stark an seiner Nase zupfte, Mama blickte etwas angewidert auf Bruder Leos Schaufel.
Siehe da, der alte rosa Blechkrug mit Jugendstilmuster — er hatte einst zum Dienstmädchenwaschgeschirr der Elisabethstraße gehört — kam unversehrt ans Tageslicht. Die mit Guttapercha — alten Halswickeln — umhüllten Päckchen schienen in gutem Zustand. Das waren sie auch, von außen. Es war stets schwer, von Mama ein erschrecktes Luftholen zu erpressen. Das Äußerste, was man von ihr hörte, war ein gefaßtes «Hm!» Auch diesmal legte sie die Etuis oder vielmehr die halbverwesten Häufchen aus Leder, Samt und Preßstoff mit eben diesem Laut auf die Verandabrüstung und sagte dann fest: «Hol mal die Teppichbürste, Kind, wir müssen die einzelnen Dinger vorsichtig saubermachen.»
Es erwies sich, wie schon so oft, daß der Segen des Großonkels den Kindern keine Häuser baut. Die schweren goldenen Vorlegebestecke, deren Griffe gräßlich als Nixen und Najaden verkleidet waren, entpuppten sich als nur dünn plattiert und hatten sich weitgehend aufgelöst. Ich fand es nicht so traurig, denn ich hätte mich geniert, mit diesen Monstren eine Eisbombe in meiner Villa am Cap d’Antibes zu servieren. Dorthin hätte übrigens auch das Konfektbesteck gepaßt, obwohl ich selbst an der Riviera ungern eine Praline mit Messer und Gabel äße.
Die kostbaren Hochzeitsgeschenke an die Eltern — die pompösen Aufschriften der Lieferanten waren gerade noch so lange zu entziffern, bis ich mit dem Besen über die Kassetten fuhr — waren flüchtig gearbeitete Ware. Sie zerfielen in ein plebejisch verrostetes eisernes Inneres und ein hochherrschaftlich goldenes, aber hauchdünnes Äußeres. Auch die Familie zerfiel, und zwar in zwei Parteien. Bruder Leo, der sich die Hände abklopfte und die Schaufel in den Schuppen zurückstellte, meinte, Tante Betty hätte seinerzeit womöglich sparen wollen. Papa stimmte ihm bei. Mama und ich hingegen bestanden darauf, daß Tante Betty damals von einem listigen Hofjuwelier getäuscht worden sei. Zu unserer Freude waren die sehr viel später angeschafften Gegenstände völlig intakt, und wir kamen auf den Segen des Vaters noch einmal wohlwollender zurück. Der Kies wurde wieder festgestampft, und alles sah aus wie früher.
Rein äußerlich betrachtet sah auch Seeham fast so aus wie früher. Die Ochsen gingen langsam und x-beinig vor den Wagen und Pflügen. Klein und grün setzten die Äpfel inmitten der abgeblühten Blüte an, die Hühner scharrten voll dämlichen Eifers auf den Misthaufen, das Korn wogte golden und erinnerte an das Fell einer rotblonden Katze. Zwischen Scheunen und hohen Dächern traten an Föhntagen die Berge unversehens einen Schritt auf das Dorf zu. Das Namensschild am Dorfeingang war von den Amerikanern erneuert worden. In allen Höfen gab es plötzlich die Männer der Evakuierten, die in bajuwarisch verwandelten Uniformjäckchen bei der Ernte halfen. Die ehemaligen Flakbaracken beherbergten Letten, Litauer, Ungarn, Banatdeutsche, die am Ufer Holz sammelten und bei den Bauern in Zigarettenwährung bezahlten, was sie kriegen konnten. An einigen der Badehütten, die Honoratioren aus der kleinen Kreisstadt gehörten, erschien das berühmte Plakat: Hier wurde alles bereits gestohlen, wenn Sie noch etwas finden, nehmen Sie es ruhig auch noch mit! Bei der Kirche traf ich die alte Meyerin. «Verstehst du dös?»
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