Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
etwa ein Jahr.
    Zu Hause empfing mich Dicki. «Mein Bär», erklärte er wichtig, «der hat Fieba, ich hab den gemeßt, der hat viertel nach acht, der kriegt Hafaschleim und ein’ Wickel mit einer Nadel zugemacht. Wo is’n der Papi?»
    «Der Papi ist fortgefahren», sagte ich tonlos und leerte abgewandten Gesichtes die Tannenzapfen an die sonnige Stelle zwischen Veranda und Hauswand. Bald würde der Herbst da sein, und sie sollten noch trocknen.
     
     
     

10
     
    Michael war und blieb verschwunden. Ich fragte viele Menschen nach ihm, ja ich drang sogar bis ins Gebäude der CIC vor, eine alte Villa in der kleinen Kreisstadt, und führte dort in der Qual meines Herzens eine Sprache, die den diensttuenden Offizier veranlaßte, erstaunt die Beine vom Tisch zu nehmen. Helfen konnte er mir nicht. Zurzeit wußte bei der Militärregierung die rechte Hand nicht, was die linke tat.
    Die Kastanien von den Bäumen der Allee, eben noch appetitlich und glänzend, verwandelten sich in Dickis Spielkorb in matte, unansehnliche Gebilde, das Laub wurde goldfarben und fiel den Kastanien nach. Dicki raschelte darin umher, und jeden Abend mußte man seine Strümpfchen waschen, weil sie so staubig geworden waren.
    Als das letzte Blatt abgefallen war, sprach mich eines Morgens bei der Molkerei ein Mann an. «Eahna Mann», sagte er, «der is fei noch immer im G’fängnis in der Stadt. Jetzt derfen’s ihn besuchen, einmal wöchentlich, am Mittwoch von zwei bis drei.» Er zeigte alle Zähne, als sei ihm ein fabelhafter Witz gelungen, und gluckerte vergnügt. Auf meine vielen verwirrten und empörten Gegenfragen wußte er keine Antwort. — So nah also war Michael die ganze Zeit gewesen, so nah! Ich zitterte am ganzen Körper, aber es gelang mir, die Milch nach Hause zu bringen, ohne einen Tropfen zu verschütten.
    «Kind, du darfst dich nicht so aufregen», murmelte Mama, «du mußt an deinen Zustand denken. Die Situation ist doch eigentlich fast komisch. Du kennst ja Michael, er wird sicher das Beste daraus gemacht haben. Das solltest du auch lernen.»
    Ich verschob das Lernen auf später und plünderte erst einmal den Speiseschrank, um ein Paket zusammenzustellen. Papa, der gerade vorüberkam, sah mir zu. «Nun back bloß keine Feile ins Brot, du Gangsterweibchen», sagte er amüsiert, «du bringst den Deinigen bloß in Schwierigkeiten.»
    Es gab keinen passenden Autobus in die kleine Kreisstadt. Wann hätte es je einen gegeben?
    Ich nahm das einzige Vehikel, das Seeham vormittags verließ: das Milchauto. Man mußte hinten auf den Kannen sitzen und es zog von allen Seiten, außerdem von oben und von unten. Ich war warm verpackt. Schön sah ich nicht aus, aber das war in meinem Zustand sowieso nicht zu erwarten.
    Wie hatte die kleine Stadt sich doch verändert, weil nun ihre Straßen zum Gefängnis zu führen schienen, einem Gebäude, das ich entweder nie gesehen oder aber nie beachtet hatte! Es hatte eine hohe Mauer ringsum und richtige Gitter vor den Fenstern. Die Gefangenen der oberen Stockwerke mußten eine gute Sicht auf den Straßenverkehr hinunter haben. Ich ging eine Stunde lang vor dem Gebäude auf und ab in der Hoffnung, Michael könnte mich vielleicht sehen. Erst später erfuhr ich, daß er nur hätte hinausschauen können, wenn er sich auf seine Pritsche stellte und am Fenstergitter in die Höhe zog.
    Die Mittagsstunden waren sehr lang. Ich betrat ein Gasthaus von finsterer Verkommenheit, das dem Gefängnistor gegenüberlag, und bestellte das Stammgericht: Kartoffelgemüse. An meinen Tisch setzte sich ein ebenso finster verkommener Mann mit geflicktem Rucksack. Er süßte sein Dünnbier mit Süßstoff, damit es malziger schmecke, und rührte das Gebräu mit seinem Taschenmesser um. Nachdem er mir mehrere Blicke voll trüber Aufmerksamkeit zugeworfen hatte, fragte er: «Wart’st aa?»
    «Ja», sagte ich, ohne mich zu wundern.
    «I hab an Spezi drin», sagte der Mann und ruckte mit dem Kinn in Richtung auf das Gefängnis. «G’wildert hat er.»
    Er benutzte wieder das Taschenmesser, diesmal, um sich etwas aus den Zähnen zu bohren, und schien nun auch von mir einen Vertrauensbeweis zu erwarten. Da keiner kam, fragte er: «Du werst auf dein’ Mo warten, oder? Wie lang hat er denn?»
    Ich mußte lachen, obwohl es mir heiß in die Augen stieg. «Ich weiß es nicht», sagte ich in reinstem Hochdeutsch, «er ist im automatischen Arrest.»
    Der Mann schmatzte und betrachtete mich von oben bis unten. Irgendwie tat ich ihm leid,

Weitere Kostenlose Bücher