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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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fragte sie und wies auf die vielen Quadratmeter bedrucktes Papier, die an der Friedhofsmauer klebten. Es waren die neuen Verordnungen der Militärregierung. Manches deutsche Wort war orthographisch nicht ganz richtig, mit kleinem oder großem Anfangsbuchstaben geschrieben. Auch ich verstand nicht alles. Die alte Meyerin schüttelte den Kopf, erklomm mühsam und gebückt die Steinstufen zum Friedhof und stand lange, in ihr Umschlagtuch gehüllt, vor den Birkenkreuzen für die Gefallenen, die man an die Nordwand der Kirche gestellt hatte. Sie standen nun schon so dicht, daß man die einzelnen Täfelchen nicht mehr lesen konnte. Sie tauchte ein Buchsbaumzweiglein in das Weihwasserschälchen und schüttelte es aus. Ihre Gedanken waren bei den wirklichen Gräbern, weit weg.
    Der alte Herr Wagner, ehemals Kassierer für die NS-Volkswohlfahrt, kam vorüber und zog den Hut mit altmodischer Grandezza.
    «Wie geht es?» fragte ich.
    «Schlecht», antwortete er höflich. «Man hat mich auf einen Lastwagen geladen und irgendwo bei Freilassing KZ-Opfer ausgraben lassen. Es ist mir nicht wegen der armen Menschen, die würdig bestattet werden sollten, aber ich bin fünfundsiebzig, und ich kann den Spaten nicht mehr richtig führen. , habe ich gesagt, Da haben sie mich laufenlassen.»
    Tastend nahmen wir wieder Kontakt mit der Außenwelt auf. Die Außenwelt begann in der kleinen Kreisstadt. Wir radelten hin, Bruder Leo, Michael und ich. Neben der Landstraße, auf der beständig Lastwagen mit amerikanischen Fahrern dahinrollten, waren die Ein-Mann-Löcher und Splittergräben eben erst zugeschüttet worden. Der Bahnhof war weg, die Güterhalle auch. Fahrkarten gab es in einer schnell zusammengezimmerten Bretterbude, die Tag und Nacht von zerlumpten Gestalten überquoll. Wer eine Einkaufstasche, einen Koffer oder Rucksack hatte, die er nicht einbüßen wollte, stellte sie sich zwischen die Beine und beileibe nicht neben sich. Es sah abscheulich aus, aber Grazie war nicht mehr nötig. Die Frauen trugen Hosen und Kopftücher, auch im Sommer. Die Häuser waren schmutziggrau, und die weiß aufgemalten Pfeile, die den Rettungskommandos den Weg zum Luftschutzkellereinstieg zeigen sollten, gleißten wie bleichende Knochen. Die meisten Läden hatten mangels Waren geschlossen, andere waren ausgeräumt, und an ihren Schaufenstern stand in Riesenlettern Unrra-Hilfskomitee.
    Unbekannte Männer in Ledermänteln gingen in der Bahnhofstraße auf und ab und raunten uns leise Worte zu: «Kaffee? Zigaretten? Amerikanisches Schweinefett?»
    Beim Heimradeln sahen die Felder genauso aus wie vor vielen Jahren, als Bruder Leo die letzten Kleinigkeiten zur Vervollständigung des Hauses mit mir geholt hatte. «Weißt du noch — hier ist uns das Bündel Vorhangstangen heruntergefallen», rief ich über die Schulter. «Lind da drüben haben sie wieder Mais angebaut, genau wie damals. Gott, ist das lange her. Seitdem war ja einiges los. Na, egal, wir haben es überstanden. Wenn wir nur erst wüßten, wie es die anderen überstanden haben...»
    Die Briefpost funktionierte noch nicht. Wohl aber trat plötzlich ein gebrochen Deutsch sprechender Mann auf der Straße an mich heran, drückte mir ein Papier in die Hand und verschwand, nachdem er sich meiner Identität vergewissert hatte. Es war ein einfach gefalteter Zettel, und darauf stand in Maschinenschrift: Schwiegereltern und Familie sind gesund. Alles in Ordnung. Eure Bücher und Silberkiste sind gerettet! Es war wie Flaschenpost auf einer einsamen Insel, und wir sprachen tagelang in wilden Mutmaßungen über den Weg, den diese Botschaft genommen haben könne.
    «Wenn wir nur ein einziges unserer Bücher wirklich wiedersehen oder eine Grammophonplatte oder eines von Urgroßmamas Mokkatäßchen», sagte ich leidenschaftlich zu Michael, während ich die Kartoffelration für den Tag abwog, «will ich nie aufhören, dankbar dafür zu sein.»
    «Ja», sagte Michael schlicht. «Bisher ist ja alles wunderbar glattgegangen. Fast zu glatt.»
    «Wie meinst du das?» fragte ich und tat vor Schreck drei Kartoffeln wieder in den Korb zurück, um sie einzusparen.
    «Nun mach dir mal keine Sorgen», sagte Michael. Bald trafen nicht nur die ersten Briefe ein, sondern es näherten sich sogar wieder Leute unserem Gartentor, die sich weder mit «Heil Hitler! Wohnt hier...» noch mit «Hallo there...» einführten, sondern wie in uralten Zeiten mit «Guten Tag!» Die Familie

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