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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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die Spelzen mit dem alten Fön aus der Elisabethstraße wegzublasen, während Michael und ich das Korn in den geplünderten Militär-Zinnschüsseln hochwarfen. Leider ging dadurch viel Korn verloren. — Die Kaffeemühle konnte das Mahlen nicht bewältigen, und es traf sich gut, daß sich unter dem im Walde verrostenden Feldküchengerät eine Zerkleinerungsmaschine für Malzkaffee befand. Michael montierte sie mir auf den etwas rachitischen Tisch hinter dem Küchenausgang. Das Schrot konnte man verbacken, noch besser aber schmeckte es als Weizenbrei, besonders wenn man diesen mit einer meiner Sonderzuteilungen bestreute, die in der Familie kurz und bündig als «Brüderchens Zucker» bezeichnet wurde. Dicki in das Geheimnis einzuweihen schien uns zu früh.
    An einem Mittwoch war ich wieder einmal dabei, Spelzen in den Wind zu blasen, als sich der neue Seehamer Bürgermeister finsteren Gesichtes dem Hause näherte. Erschrocken trat ich von der Veranda ins Wohnzimmer. Himmel, irgend jemand hatte mich beim Weizen-Organisieren beobachtet. Nun kam es!
    «Ist der Mann da?» fragte der Bürgermeister. Es war der Tapezierer, der erst kürzlich Dickis Matratze frisch bezogen hatte. Die Militärregierung hatte ihn zum Bürgermeister ernannt, denn nichts aus dem tausendjährigen Reich durfte übernommen werden, auch der alte Bürgermeister nicht.
    «Er ist drinnen, wollen Sie ihn sprechen?»
    «Es ist net notwendig», sagte der Bürgermeister. Erst jetzt sah ich, daß er nicht finster, sondern traurig war. «Die Ami san bei mir auf der Gemeinde droben. Sie hol’n Leut ab, wo in’n automatischen Arrest g’hörn. Der Mann war beim Nachrichtendienst, gell? Er soll sich warm einmachen und a Wäsch mitnehmen.»
    Mit zitternden Lippen versuchte ich einen Scherz. «Tischwäsche?» fragte ich.
    «Du verstehst mich schon», sagte der Bürgermeister, als sei ich noch einmal die Vierjährige mit den Korkenzieherlocken, die am Strande gespielt hatte. Es war ihm sichtlich unangenehm, Träger einer solchen Botschaft zu sein, und mir war es ebenso unangenehm, daß ich sie ihm nicht ersparen konnte.
    «Werd net so schlimm wer’n — aso a Krampf», murmelte er, bestimmt damit seine Kompetenzen überschreitend, und wandte sich zum Gehen. Michael war keinen Augenblick erstaunt. Wie immer, wenn Unangenehmes eintrat, hatte er es längst erwartet. Es dauerte keine halbe Stunde, da stand er mit bleischwerem Rucksack und Wintermantel auf der Veranda. Ich begleitete ihn bis zur Gemeinde. Wir waren unter dem Druck dessen, was nun auf uns zukam, von eisiger Höflichkeit und wagten nicht, einander zu berühren oder etwas Tröstliches zu sagen.
    Während Michael vernommen wurde, lungerte ich in der Gegend des Gemeindehauses herum. Wie anders doch die altvertrauten Häuser plötzlich aussahen! War dies wirklich der vergitterte Kasten, in dem unser Aufgebot gehangen hatte? Keiner der mir bekannten Seehamer zeigte sich, um diese Zeit wurde gegessen. Eine wildfremde Frau tauchte neben mir auf und bot mir zu einem Phantasiepreis eine Stange amerikanischer Zigaretten an. Ich war so verdutzt, daß ich sie kaufte und sie Michael in den Jeep reichte, in den er in Begleitung eines Zivilisten einstieg. Michael brachte es fertig, mir zuzuraunen, alles sei für ihn sehr interessant, besonders da er nun wohl zum ersten Male in seinem Leben mit echten Nazis ins Gespräch kommen würde. Der CIC-Mann, der den Jeep chauffierte, war sehr freundlich. Er meinte, es handle sich höchstens um einige Wochen, er wisse selber nichts Genaues, obwohl er täglich an die hundert Personen aus der Gegend verhöre. Ich wollte ihm kein Schauspiel geben, sagte mit heller Stimme: «Also, dann mach’s gut» zu Michael und blieb mit geballten Fäusten regungslos auf der Dorfstraße stehen, als der Jeep sich entfernte.
    Vom Gemeindehaus weg ging ich im Sturmschritt in den Wald, den Rucksack hatte ich schon auf dem Rücken. Ich sammelte Tannenzapfen, ich sprach mit ihnen, ich murmelte, ich fluchte, ich gebrauchte Kraftausdrücke und warf den Rucksack gegen einen Baum. Als ich mich genügend erfrischt und gestärkt hatte, war ich in der Lage, nach Hause zu gehen und Mamas Trostversuche anzuhören. Mama stammte aus einer Zeit, in der niemand zu leiden brauchte, der nicht vorher Unrecht getan hatte, und in der Ehrlichkeit am längsten währte, auch bei ausgefüllten Entlassungsfragebogen. Nun, was letzteres anbelangte, so war alles beim alten geblieben. Auch diesmal währte es am längsten,

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