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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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und er wußte augenscheinlich nicht, wie er mir sein Mitgefühl bekunden könne.
    «Da siechstes wieder mit dera Demokratie», sagte er tadelnd, «allweil die gleich’ Scheißerei und no ärger!»
    Nun lachte ich wirklich. Es hatte wohl keinen Sinn, ihn in einem langen Vortrag zu belehren. Ich erkannte seinen guten Willen an, indem ich wenigstens «O mei!» sagte, was alles bedeuten konnte.
    «Mogst a Brez’n?» fragte der Mann und bot mir freundlich die Hälfte von seiner. Nachher gingen wir einträchtiglich zusammen über die Straße und standen vor dem Gefängnis, vor dem sich nun, ein paar Minuten vor zwei Uhr, einige mehr als zweifelhafte Gestalten eingefunden hatten: Weiber in abgeschabten Pelzmänteln, grau und hohläugig, ein pickliger Jüngling in leuchtend kariertem Jackett. Nun, wer weiß, wie ich aussah — in meiner langen Trainingshose und dem alten Ledermantel von Michael darüber, einen verschnürten Pappkarton mit Brot, Schweinefett und selbstgebautem Tabak in der Hand. Einen Augenblick lang durchrieselte mich die humoristische Vorstellung, Urgroßmama könne mich so sehen. Dann hörte man Schlüsselrasseln und das Tor ging auf.
    Es dauerte noch eine halbe Stunde in dem büroähnlichen Vorraum, in dem sich außer zwei Schreibstubengesellen etwa zehn Personen aufhielten, dann erst brachte man Michael. Ich hatte mir vorgestellt, daß man mich einen Korridor entlangführen würde und ich ihn durch ein Gitter, aber allein sprechen könne.
    Ich erschrak furchtbar, als ich ihn sah. Er war unrasiert und eingefallen und glich plötzlich den Jugendbildern seines Vaters, so kantig energisch sprangen seine Kinnladen vor. Ich wußte nicht, ob ich ihn zwischen all den Geldfälschern, Wilddieben und Zuhältern küssen sollte oder nicht. Wir stellten uns an das eine Ende eines Fensters, das auf den Hof hinausging. Der Wärter, der Michael gebracht hatte, schlug am anderen Ende mit seinem Schlüsselbund spielerisch auf das Fensterbrett. Das Geräusch ging einem durch Mark und Bein. Wir hatten fünf Minuten Zeit. Michael zählte mir kurz auf, was für interessante Typen mit ihm in der Sechs-Mann-Zelle säßen, und an wen ich alles zu schreiben hätte, um eventuell eine Beschleunigung seiner Vernehmung zu erreichen. Er vergaß auch nicht, mit vor Optimismus leuchtenden Augen zu äußern, daß es nach der Vernehmung höchstens noch ein, zwei Wochen dauern könne. Er wisse es aus sicherer Quelle.
    Ich besuchte ihn noch einmal, unter ähnlichen Umständen. Als ich das dritte Mal in den Vorraum des Gefängnisses trat, mit stärkerem Herzklopfen als bei unserem ersten Rendezvous in Berlin, stand ein Uniformierter auf und sagte zu mir: «Ihr Mann ist nicht mehr hier. Er ist ins Lager gekommen.»
    «In was für ein Lager?» fragte ich.
    «Das wissen wir nicht», sagte der Mann. «Die Amis haben alle im Lastwagen abgeholt, die in den automatischen Arrest gehören.»
    Ich ging stumm und erschreckt davon und brauchte eine geraume Weile, um vis-à-vis des Gefängnisses die Straße zu überqueren, die in ein schwefliges Licht getaucht schien. Es wurde auch immer dunkler. Als ich genauer hinsah, lösten sich kleine, helle Flocken aus dem Himmel. Es fing an zu schneien, der Winter war da. Wie gut, daß Michael seinen Wintermantel mithatte. Vierzehn Tage später kam ich mit einem Mann ins Gespräch, der aus einem Lager entlassen worden war. Er nannte seinen Namen nicht und wußte auch nicht, wo Michael sich aufhielt. Er konnte mir jedoch aus eigener Anschauung berichten, wie so eine ehemalige KZ-Baracke im Winter aussah: Türen und Fenster von der Bevölkerung geplündert und die verschneiten Pritschen ohne Strohsack.
    Die Amerikaner waren sicherlich der Meinung, daß ein Schriftsteller viel lebenswahrer schöpft, wenn er Lager und Gefängnis von innen kennengelernt hat, und daß es seinen Charakter stählt, den Urzuständen der Menschheit nähergebracht zu werden, als da sind Kälte, Hunger und Ausgeliefertsein. Meinen Charakter jedoch stählte es nicht. Ich wurde nur bissig und bitter. Vielleicht hatte ich die falsche Art, auf Prüfungen zu reagieren. Nachts wurde ich im Bett nicht warm, weil ich mir immerzu überlegte, ob Michael seinen Mantel als Unterlage oder als Zudecke verwendete.
    Mama, die noch glaubte, das menschliche Leben würde von Realitäten regiert — sie hatte nicht bemerkt, wie Seehams zauberhaft schöne Landschaft sich in eine Vorhölle verwandeln konnte und die blumenbunten Wiesen voller weggeworfener

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