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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Panzerfäuste in Todesfällen für Dicki — , bestand darauf, daß ich nur deshalb so fröre, weil ich fast nichts mehr äße. Ich konnte nicht. Alles schmeckte nach Dieselöl und Kriegsende und erregte mir Brechreiz. Wenn ich für die Familie kochte, so steckte ich mir Watte in die Nasenlöcher, um nichts zu riechen, und richtete meinen Blick auf das Diplom aus dem Cordon bleu, um mich durch die Vorstellung «noblesse oblige» aufrechtzuhalten.
    Wer mit dem Geschick hadert, schädigt den Kreislauf. So war es denn nicht verwunderlich, daß sich bei mir diverse Leiden entwickelten, die nur bedingt mit dem bestellten Brüderchen zu tun hatten. Es traten mehrere Ärzte auf den Plan, für jedes Leiden einer. Nachdem diese ihre lateinischen Vokabeln ausgetauscht hatten, wurde klar, daß ich sowohl als Köchin wie als Managerin und Mutter in den kommenden Monaten ausfallen würde. Mama konnte sich während dieser Zeit nur um zwei Dinge kümmern: um Papa und ihren Herzfehler. Wir machten noch einen, von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, eine weibliche Hilfskraft beizuziehen, und beschlossen dann, Dicki seinem ersten Gemeinschaftserlebnis zuzuführen: einem Kinderheim. Ich sah mich gezwungen, auch diese Trennung von einem bezaubernden Kinde im nettesten Alter den Zuständen zuzurechnen, die der Mann mit dem häßlichen Bärtchen uns hinterlassen hatte.
    Es war schwer, ein geeignetes Kinderheim zu finden, aber fast noch schwerer, Dicki hinzuschaffen.
    Für dringende Fälle stand Seeham ein Holzvergaser-Auto zur Verfügung. Wenn man das Holzgulasch in dem Blechkessel auf seinem Dach frisch umgerührt hatte und wenn keine Steigung kam, dann solle es, sagte man mir, recht ordentlich fahren. Diesem zweifelhaften Gefährt und einer guten Bekannten vertraute ich den Knaben an, der sich gutwillig von uns trennte. Im Hinnehmen des Unabänderlichen schien er die Beweglichkeit seines Vaters geerbt zu haben. Er trommelte mit beiden Fausthandschuhen zum Abschied an die Autoscheiben und sah in seiner aus Wollresten gehäkelten Mütze und dem Mäntelchen aus der geplünderten Militärdecke herzzerreißend lieb aus.
    «So, nun legen Sie sich aber endlich hin», sagte der Arzt. Dem jedoch stand etwas sehr Wichtiges entgegen: Am Vormittag war ein Bekannter gekommen, der so viel wie sicher zu wissen glaubte, in welchem Lager Michael sei. Wir sollten ihm doch ein Paket schicken. — Der Gedanke elektrisierte das ganze Haus. Ein Paket? Was hineintun? Der zermahlene Weizen war aufgebraucht. Wieviel Brotmarken hatten wir noch? War von meinen Zusatzweißbrotmarken noch etwas da? Ich hatte schon den Mantel an. «Kind, übermach dich nicht!» rief Mama mahnend, aber ich hörte es nur halb, weil ich gerade mein Kopftuch zuband. Mein erster Gang führte zum Metzger, dem ich mit knappen Worten ein Fahrrad, voll bereift, zum Tausch gegen Speck und Geräuchertes anbot. Der Metzger war nicht gerade Feuer und Flamme, doch leistete er immerhin eine kleine Anzahlung, auf die es mir ankam. Dann wandte ich meine Schritte in Richtung auf ein Nachbardorf. Ich betrat eine Bäckerei, wartete nicht, bis das Ladenglöckchen ausgeläutet hatte, legte das Geld für drei Pfund Brot auf den Tisch, aber keine Brotmarken, nahm einen Welchen und verschwand. Meinen Heimweg wählte ich durch die Scheune eines großen Gehöftes. Ich hatte zwei Eier in der Tasche, als ich wieder herauskam. Das Huhn hatte sie mir freiwillig gegeben. Es war ein purer Zufall, daß ich nicht auch das Huhn noch mitgenommen hatte, aber es hätte wahrscheinlich gegackert und meinen Ruf für immer untergraben.
    Mit der Post konnten wir das Paket nicht schicken. Persönlich zum Lager fahren durfte ich nicht, das verbot der Arzt. Mama verbot er es auch. So begab sich denn Papa zum Holzgasauto, das Paket unverschnürt in der Hand, um es einer Kontrolle am Lagereingang zeigen zu können. Anderthalb Stunden lang wurde der Motor des Holzvergasers angelassen, Papa stand in Galoschen und Pelzmütze daneben. Dann hieß es, jetzt sei der Karren endgültig hin. Papa kehrte heim. Als das Holzgasauto wieder repariert war, fiel Schnee, viel Schnee. Das Auto mit seinen schwachen Kräften hätte nicht durchgekonnt. Das Brot im Paket wurde ziemlich trocken, ein Beweis dafür, daß unrecht Gut nicht gedeiht. Papa zog einen noch wärmeren Mantel an und fuhr morgens, in erfrischender Luft auf einer Milchkanne sitzend, mit dem Lastauto in die kleine Kreisstadt, verbrachte dort den Vormittag im bretternen

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