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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Behelfswarteraum unter verschleppten Personen und bestieg mittags einen Zug. Nach einem Fußmarsch von einer weiteren Stunde über vereiste Landwege gelangte er an einen Stacheldrahtverhau. Ihm folgend erreichte er das Lagertor. Der Posten wies ihn zurück. «Pakete nur montags und freitags», sagte er. Papa blieb stehen und sagte milde: «Hör mal zu, mein Junge. Ich bin siebzig Jahre alt und seit heute früh unterwegs. Sieh dir das Paket wenigstens einmal an.» Der Posten kam näher und studierte die Aufschrift. «I am terribly sorry», sagte er dann. «Einen Gefangenen dieses Namens haben wir hier nicht.» Das «terribly sorry» rettete in meinen Augen die Würde der amerikanischen Armee.
    Papa kam abends sehr erschöpft und durchfroren zurück, das Paket in der Hand. Von dem Brot machten wir Brotsuppe. Es war die sauerste Brotsuppe meines ganzen Lebens. Ich begann zu ahnen, daß es mir bisher zu gut gegangen war, und daß ich nun im Emst geprüft wurde. Vielleicht fiel ich bei dieser Prüfung durch und mußte nachsitzen?
    Die Energie, die mir noch verblieben war — es war nicht allzuviel — , brauchte ich, um meine Entbindung vorzubereiten. Um die Klinik der kleinen Kreisstadt aufzusuchen, benötigte ich ein Rotkreuzauto. Das Rotkreuzauto hatte nur Benzin für lebensbedrohende Fälle. Ich ging zum Amtsarzt des Kreises. Er stellte mir ein Zeugnis aus, nach dessen Lektüre ich Papa fragte, ob man bei einem Testament eigentlich Datum oder Unterschrift an die letzte Stelle setze. Auf das ärztliche Attest hin war das Rotkreuzauto bereit, mich zu fahren, aber nur tags. Nachts während der Sperrstunden dürfte niemand auf die Straße, darin seien die Amerikaner eigen. Man verwies mich wegen eines entsprechenden Antrages an die Militärregierung. Die Militärregierung überreichte mir einen sechsseitigen Fragebogen von einem Format, daß man sich im Freien hätte damit zudecken können. Er heischte genaue Auskunft über meine früheren Auslandaufenthalte, über meine politische Vergangenheit und die Kragenweite meines Großvaters. Ich fand, das alles habe mit meiner Entbindung nichts zu tun, aber ich füllte alles aus und reichte es ein. Nach einer weiteren Woche — Mama wurde immer nervöser — erhielt ich die Genehmigung, mich in Ansehung meines besonderen Falles nachts auf der Straße zu bewegen. Die Genehmigung war nach Datum befristet.
    «Es ist fein», sagte Papa trocken, «daß du weder zu Früh- noch zu Spätgeburten zu neigen scheinst, das könnte jetzt eine schöne Schweinerei werden.»
    Von Bruder Leo kam ein Brief, auch er könne die Amerikaner nicht mehr ganz so lieb haben wie damals, als sie hinter unserem Sommerhaus residierten. Er arbeitete jetzt für sie, und es sei ein Jammer, daß er uns nicht etwas kaltes Gulasch in einem Einschreibbrief schicken könne. Mit Resten seien die Amerikaner großzügig. Im übrigen ginge es ihm gut. Natürlich zehre die Ungewißheit an ihm, ob er wieder Onkel oder diesmal Tante würde.
    Das Rotkreuzauto ging zwei Tage später kaputt, und man ließ mir sagen, ich solle den Seehamer Holzvergaser nehmen. Der Fahrer des Holzvergasers brauche allerdings auch ein Permit, um mich nachts fahren zu dürfen. Zum Ausfüllen eines weiteren sechsseitigen Fragebogens kam es jedoch nicht mehr, weil Brüderchen nicht länger warten wollte. In der nächsten Nacht stolperte Papa durch Seehams dunkle Wiesen, in der Hand eine aus dem See gerettete Grubenlampe, weil wir keine Batterie für unsere Taschenlampe mehr bekommen hatten. Er holte den Seehamer Arzt und das Holzgasauto nebst Chauffeur. Den Arzt hätte man am besten bei Mama gelassen, die infolge der vielen Aufregungen seiner mehr bedurfte als ich, er war aber dazu ausersehen, unserem Transport die nötige Legitimierung zu geben. Die besorgten Eltern blieben zu Hause, und wir fuhren in die Klinik. Wir wurden zwischen Seeham und der kleinen Stadt von niemandem gesichtet, geschweige denn aufgehalten. Es war fast schade. Mir brannten für diesen Fall einige amerikanische Redewendungen auf der Zunge, die ich gerne auf eine Patrouille der Military Police abgeschossen hätte.
    In der Klinik ging alles glatt. Es war ein wahres Glück, daß irgendwo auf der Welt irgend etwas so funktionierte, wie die Natur vorgesehen hatte. Das Brüderchen glich Dicki gar nicht, es war viel zarter und etwas müde, als sei auch für ihn das Kriegsende und alles, was danach kam, sehr anstrengend gewesen. Er sah aus wie Michael, wenn er abends zu lange

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