Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
noch neben mir geboren worden: sie krähten und verhinderten, daß ich aus dem ewig-gleichen Kreis meiner finsteren Gedanken endlich entkam. Wenn man mich ansprach, weinte ich. Vor den Eltern nahm ich mich zusammen, und wir unterhielten uns freundlich-munter, als seien wir auf einer Tee-Einladung. Ich las nicht, und ich schrieb nicht. Vor mir auf der Decke lagen meine Hände, glatt und gepflegt, unnütz wie die Lilien auf dem Felde, seit vielen Jahren zum erstenmal wieder die Hände einer Dame.
    Ein altes Weiblein, das den Nonnen half, um die Essenszeit Bestecke und Tabletts in den Zimmern zu verteilen, blieb nun täglich etwa fünf Minuten an meinem Bett stehen. Sie erinnerte mich ein wenig an die Beerenfrauen längst vergangener, schönerer Zeiten, und wenn sie kam, wandte ich mich nicht zur Wand, wie bei den meisten anderen Leuten.
    «Was is mit dir, werst du allweil no net g’sund?» grollte sie, und mütterliche Zärtlichkeit schwang in ihrer Stimme. «In d’ Würscht’ g’hörst! Du muaßt mehra essen und derfst net allweil an den Verdruß mit dem Kindl denken. Schau, daheim sans uns’ sechzehne g’wen und sans uns’ zwölfe am Leben blieben und hat d’Muatter aa nix sog’n derf’n. Jetzt schau amal, daß d’ was werst. ‘s Leben is lang, da kirnt no allerhand. Tu nur schön essen!»
    Da stand sie nun, anzusehen wie ein rundes Brot mit kurzen krummen Füßchen daran, und hielt einige blecherne Eßlöffel in der Hand, mit denen sie gelegentlich zu ihrer Predigt den Takt schlug. Ich ertappte mich dabei, daß ich nach der Uhr sah, wenn ich sie erwartete. Mit ihr drangen die Berge, Wälder und kauzigen Originale Bayerns in das allzu weiße, nach Lysol riechende Krankenzimmer.
    Obwohl ich brav war und aß, wurde ich doch immer elender. Es kam der Tag, an dem sich zwei Ärzte zugleich an meinem Bett einfanden und nach der rein spaßhaft gemeinten Frage: «Tja, was machen wir nur mit Ihnen?» beschlossen, mich ganz auseinanderzunehmen, die einzelnen Teile gut zu polieren und wieder zusammenzusetzen. Man brachte mich in eine andere Abteilung, in der ich allein lag.
    Am Mittwoch nach der Operation kam Papa, wie jeden Mittwoch. Er setzte sich umständlich, faltete die Hände zwischen den Knien und fragte: «Hast du deine Innereien numeriert? Ich meine, daß sich dann nicht hinterher herausstellt, daß die Hälfte fehlt?» Dann erzählte er von Seeham. Es war sehr still geworden im Haus, von dem anzunehmen war, daß es sich nach der jahrelangen Überbelastung nun erlöst aufblähte wie ein abgeschirrter Gaul. Meisen und Grünfinken ließen sich von der Stille dazu hinreißen, es für unbewohnt zu halten. Sie pickten an Wänden und Fensterrahmen, ja, sie pickten sogar die Briefe auf, die Mama für den Postboten bereitgelegt hatte. Vielleicht schmeckte der Leim der Kuverts besonders gut. Die Tür zum Anbau war abgeschlossen und ein Teppich davorgehängt, weil von dort ein Eiseshauch hereindrang. Das Bad, nur von dort aus betretbar, war längst aus dem Verkehr gezogen. Es gab kein Holz, um den Badeofen zu heizen, seit niemand mehr zur Flußmündung über den See ruderte.
    «Tja, was noch?» fragte Papa in die Stille hinein. «Von Leo haben wir gute Nachrichten. Ebenso von deinem Sohn Dicki. Die Mama telefonierte oft mit dem Kinderheim. Der Knabe lügt die anderen Kinder an wie gedruckt, um ihnen zu imponieren. In Seeham, sagte er, gebe es Löwen mit einem Stern auf der Brust. Nicht schlecht, wie? Wenn er groß ist, kannst du ihn Journalist werden lassen!»
    Ich lachte, ein bißchen mühsam, so wie damals in Paris nach der Blinddarmoperation. War es möglich, daß es das einmal gegeben hatte, Paris, und keine anderen Sorgen als die Launen von Mutter Veilchen?
    Von Michael sprachen wir nicht. Wir wußten ebensowenig von ihm, wie er von uns. Fast erwartete ich, daß Papa auch von ihm eines Tages sagen würde, er sei nur ein Traum gewesen, so wie die Fabriken im Ausland, die bürgerliche Sicherheit, die Elisabethstraßenwohnung und die Villa am Cap d’Antibes.
    Der erste Zugvogel, der nach Seeham zurückkehrte, war ich. Die Verhältnisse schienen sich gebessert zu haben, denn Mama bekam fast mühelos ein Auto, mit dem sie mich abholte. Papa blieb zu Hause und heizte die Öfen. Als der Wagen um die Ecke bei der großen Linde bog, sah ich über dem Dachfirst unseres Hauses eine hohe, zartlila Wolke stehen. Ich mußte zweimal blinzeln, ehe ich erkannte, daß es die noch kahle Weide war. Neben ihr wirkte das Haus klein

Weitere Kostenlose Bücher