Ein Baum wächst übers Dach
gelesen hatte und dann das Monokel herausnahm, mit dem angetroffen zu werden ihm peinlich war.
So wie die ganzen letzten Wochen erlebte ich auch das Krankenhaus wie durch eine dicke Glasscheibe. Ich war nicht wirklich dort, aber es war doch schön, nichts mehr zu müssen und endlich müde sein zu dürfen. Die pflegenden Nonnen mit ihren ungeheuren Hauben neigten sich über mich, um mir etwas einzugeben, und ich überlegte flüchtig, wer auf den Gedanken gekommen sei, daß Engel die Flügel unbedingt an den Schulterblättern haben müssen. Ginge es nicht auch weiter oben?
Meine beiden Bettnachbarinnen nahmen großen Anteil an mir.
«Bist verheirat?» fragte die eine, die so rote Haare hatte, daß man ein dunkles Zimmer mit ihr hätte erleuchten können. Ihr Baby stammte von einem Neger, der mit seiner Truppe die Berge entlanggezogen und versehentlich in ihr Dorf geraten war. Der Vater des anderen Babys war in letzter Minute gefallen. Brüderchen und ich wirkten unerhört bürgerlich in dieser Umgebung.
Früh um fünf Uhr weckte mich Gesang: die Nonnen hielten in der kleinen Krankenhauskapelle Frühmesse. Wenn es wieder still geworden war, kam langsam die Dämmerung und drückte ihr graues Gesicht flach wie Papier an die großen Fenster. Es wurde niemals richtig hell, und ich selber wurde niemals richtig wach. Das eilige Ticken eines Wasserhahnes am Waschtisch zählte die Minuten in den Ausguß. Draußen auf den linoleumbelegten Korridoren knarrten die frommen Schnürschuhe der Schwestern, und in der Ferne pfiff manchmal ein Zug, der aus der kleinen Kreisstadt das Weite suchte.
Papa und Mama besuchten mich abwechselnd, aber wir konnten uns der Bettnachbarinnen wegen nicht in gewohnter Weise unterhalten, und sie taten mir wegen der schwierigen Anreise zu mir jedesmal so leid. Ich war erst froh, wenn ich sie wieder sicher in Seeham wußte. Einmal ging Papa zu Fuß nach Hause, weil wie gewöhnlich kein Autobus ging, und mußte der Schneeglätte und seines unsicheren Knies wegen den Fahrstraßenberg auf dem Hosenboden herunterrutschen. Naß und mit zerrissener Hose kam er nach drei Stunden zu Hause an.
Vom Pfarramt der nächsten Stadt kam eine Karte: Ich möge dorthin mitteilen, wie es mir gehe. Die wenigen dürren Worte erzählten eine lange Geschichte von den rührenden Versuchen eines Lagergeistlichen, den Gefangenen die wichtigsten Nachrichten von draußen zu vermitteln. Nun bestand Hoffnung, daß Michael von uns hörte. An diesem Tage schmeckte der Abendtee aus den dicken Porzellantassen besser, obwohl die Schwestern Laniera und Cortilia immer zuviel Süßstoff hineintaten.
Wir berichteten dem Pfarramt, Mutter und Sohn gehe es glänzend. Das war leider nicht die Wahrheit. Wir gaben Anlaß zu Beanstandungen. Am schlechtesten gedieh Brüderchen. Es schien ihm bei näherer Betrachtung dieser Welt und ihrer Einrichtungen einfach keinen Spaß zu machen, in ihr zu leben. Wer konnte es ihm übelnehmen? Mir machte es zurzeit ja auch keinen.
«Tja», sagte der Krankenhausarzt. «Ihnen ist es ja auch vorher so schlecht gegangen. Das Kind müßte in eine Kinderklinik, wir haben hier nicht die rechten Möglichkeiten. Aber unter den heutigen Verhältnissen...»
Was nach menschlichem Ermessen völlig unmöglich war, brachten echte Freunde dennoch fertig. Sie fanden den Weg, das Brüderchen in geheiztem Wagen holen zu lassen und durch eine halbzerstörte, mit Brettern und Verordnungen vernagelte Welt sicher in eine Kinderklinik zu bringen. Es grenzte an ein Wunder, besonders, da der Chef der Kinderklinik selber kam, um Brüderchen entgegenzunehmen.
Wie jedes Wunder war auch dieses ein bißchen zum Fürchten. Die Art, wie der schwarzgekleidete alte Herr, flankiert von zwei gewaltigen frommen Schwestern seines Ordens, an meinem Fußende auftauchte und das reisefertig verpackte Brüderchen im Arm hielt, hatte etwas von der phantastischen Intensität eines Traums. Ich war so tief beeindruckt, daß ich nicht einmal weinte. Die drei unirdischen Gestalten verabschiedeten sich, ehe ich ihnen hatte danken können, stiegen drunten vor dem Krankenhaus in einen großen dunklen Wagen und fuhren fort. Ich sah sie niemals wieder, auch das Brüderchen nicht. Alle Liebe und Fürsorge vermochten nicht, sein kleines Lebensflämmchen zu erhalten. Es erlosch nach wenigen Wochen.
Als man das Brüderchen begrub, lag ich noch immer im Krankenhaus. Meine Bettnachbarinnen hatten mehrmals gewechselt. Manche strammen, vitalen Besatzungskinder waren
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