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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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konnte.
     
    Welchen Streifzug wir auch unternahmen, am Ende landeten Antoine und ich immer auf einer der großen Rasenflächen, die den Badeort umgaben. Von dicken Mauern geschützt, überragt von Sternenbannern, die im Wind schlugen, lag das saftige Grün des tadellos gemähten Rasens vor uns, von dem die weißen Kreuze abstachen, die hier aufgereiht waren, so weit das Auge reichte.
    In Horville hatte es bei der Landung die heftigsten Gefechte gegeben. Die Alten erzählten uns gerne davon, Antoine und
ich hörten ihnen erschüttert zu: Als die deutschen Divisionen die Alliierten unter Beschuss nahmen, färbte sich das graue Wasser, in dem wir schlotterten, purpurrot, und der Sand, in dem wir Krieg spielten, hatte das Blut dieser kaum der Kindheit entwachsenen Soldaten aufgesogen.

 
    Als Kinder wussten wir besser als die gedankenlosen Erwachsenen, was das Nichts war: Es lag ja noch nicht lange zurück, dass wir Gestalt angenommen hatten. Wir waren ungestüm, angetrieben von jener Kraft, die unseren Gliedern Schmerzen bereitete, weil unsere Knochen sich wie die Zweige zur Sonne hin streckten. Dennoch spukte uns der Tod im Kopf herum, und wir betrachteten ihn mit der scheinbaren Gleichgültigkeit derer, die seinen Hauch schon in Nacken gespürt haben. Wir bezähmten ihn mit unseren Vogelgräbern, unseren Kreuzen aus Zweigen. Er war uns vertraut, und jede Nacht erinnerte uns daran, wenn er uns in unseren Träumen packte.
     
    Die Kälte ließ mich langsam steif werden. Ich stieg von der Rutschbahn herunter: Iannis konnte nicht länger allein bleiben, ich musste zurück in die Villa. Sobald ich das Haus betreten hatte, spitzte ich die Ohren und lauerte auf ein Stöhnen oder ein Knarren des Parketts, doch nichts rührte sich. Die Möglichkeit, in mein Zimmer zurückzugehen, gefiel mir nicht, und der Gedanke weiterzuschlafen kammir überhaupt nicht in den Sinn, daher ging ich über die Veranda in den Garten, der in nächtlicher Dunkelheit lag. Der Wind hatte sich gelegt, vollkommener Stille Platz gemacht. Unter meinen Schritten knirschte der Kiesweg, und ich zuckte zusammen, als ich bei der Buchseinfriedung um eine Gartenbank den rot glühenden Punkt einer Zigarette erblickte.
    »Nun, Sie hatten also auch das Vergnügen?«
    Helena saß auf einem der Metallstühle und hielt eine Tasse Kaffee in den Händen. Sie wusste schon Bescheid, war nicht eingeschritten, hatte aber alles mit angehört und wartete hier auf mich, als ob sie geahnt hätte, dass meine Schritte mich schließlich zu ihr führen würden.
    »Die Spezialisten haben Theorien dafür parat! Wissen Sie, was sie mir zu sagen wagten, als es das erste Mal passierte? Für sie war es der größte Liebesbeweis, den mein Sohn mir geben konnte! Ich erspare Ihnen die Einzelheiten von diesem Quatsch, dass die Außenseite seines Körpers bedeckt sei mit seinem Inneren wie mit einer neuen Hülle und er den sehnlichen Wunsch habe, seine Mutter möge in dieser Kugel mit eingeschlossen sein   … darin bestehe der höchste Liebesbeweis!«
    Mit einem bitteren Lachen fügte sie hinzu:
    »Nach diesem Vorfall werden Sie verstehen, dass es nur noch eine Lösung gab, um ruhige Nächte zu haben: ein Liter Theralene für Iannis, ein ganzes Fläschchen Valium für mich!«
    Dann, ohne Überleitung:
    »Ich hoffe, Sie haben die Waschmaschine angestellt?«
    Sie bot mir eine Tasse Kaffee an, dann gingen wir zurück und setzten uns trotz der Kühle an den Gartentisch, als ob wir den Augenblick hinauszögern wollten, uns Iannis zu nähern.
    »Ich musste mich immer allein um meinen Sohn kümmern, Sie haben es beim Zusammentreffen mit seinem Vater sicher bemerkt. Ja, natürlich, ich hatte Hilfe, Studenten wie Sie, die sich tagsüber um ihn kümmerten, aber es ging nie lange gut. Dann mussten wieder neue gesucht, wieder alles erklärt werden   …, aber das Bedürfnis zu schreiben war verschwunden, ich war verdorrt   … und ich verfiel in Stumpfsinn.«
    Sie machte eine Pause.
    »Keine Ahnung, warum, aber ich habe das Gefühl, mit Ihnen ist es anders, fast könnte man meinen, da hätten sich zwei getroffen. Vielleicht liegt es am Ort, dieser ausgestorbenen Stadt   … und der Tatsache, dass ich wirklich entschlossen bin, mich nicht mehr auffressen zu lassen, so dass Iannis zweifellos die Möglichkeit hat, sich von mir zu lösen. Doch eines weiß ich sicher: Retten wird mich die Entscheidung, wieder zu schreiben, und nichts kann mich davon abbringen, nicht einmal mein Sohn.«
    In der Ferne

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