Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
dem Gedanken. »Wenn ich mich schneide? Dann dringt das Blut in meinen Körper.« Zum Glück kommt er nicht oft in Kontakt mit Fleisch. Vielleicht aus Rücksicht auf Justos Phobie wird das Rindfleisch für das einzige Fleischgericht auf der Karte - Surf and Turf vom Wagyu-Rind - von den Köchen zugeschnitten.
Heute ist zuerst der Heilbutt an der Reihe. Heilbutt ist leicht zu zerlegen: zwei fette, grätenfreie Filets, oben und unten auf jeder Seite. Sie lassen sich leicht von der Mittelgräte lösen, die Haut kann man mit einem Ruck abziehen - und die Portionen ergeben sich quasi von selbst - ähnlich wie wenn man Medaillons vom Rinderfilet schneidet. Für einen 25 Pfund schweren Heilbutt braucht Justo ungefähr acht Minuten.
Kabeljau ist da anders. Er ist empfindlich. Extrem empfindlich - und er verdirbt schnell. Wenn man nicht vorsichtig damit umgeht, wird das Fleisch breiig. Vom Körperbau her eignet sich ein Kabeljau nicht dazu, in identische, gleichmäßig geformte Quadrate oder Rechtecke zerlegt zu werden, die ein Dreisternerestaurant erfordert. Aber bevor ich richtig begreife, was vor sich geht, hat Justo die Filets schon von der Mittelgräte gelöst und säuberlich aufgetürmt. Die Filets von der linken Seite auf den einen Stapel, die von der rechten auf einen anderen Stapel. Mit dem (wie man eigentlich meinen sollte) ungeeigneten Tranchiermesser schneidet er völlig identische Würfel (zuerst aus den Filets von der linken Seite, dann aus den Filets von der rechten Seite). Wenn die Würfel nicht identisch sind, begradigt er schnell - und kaum
wahrnehmbar - die Seiten und bringt sie auf eine einheitliche Größe. Die Abschnitte bilden einen stetig wachsenden Berg auf der Seite, der den ganzen Vormittag lang durch weitere Abschnitte ergänzt und später an die Organisation City Harvest gespendet wird. Die Endstücke - und kleinere, aber immer noch verwendbare Stücke, die man nicht gleichmäßig zuschneiden kann, aber sonst in jeder Hinsicht einwandfrei sind - kommen auf einen anderen Stapel, weit weg von den gleichmäßigen Stücken. Wenn Justo mit einem Stapel fertig ist, setzt er die Stücke in der Reihenfolge, wie er sie vom Fisch abgeschnitten hat, in eine Plastikschale. Nachdem Justo die einheitlichen, schöner als im Lehrbuch geratenen Portionen von der linken und rechten Seite in der Plastikschale arrangiert hat (wobei er die Stücke nie aufeinanderlegt), holt er die kleine, grammgenaue Waage aus dem Regal und ordnet die verbleibenden Kabeljaustücke mit übernatürlicher Geschwindigkeit zu Paaren. Dafür muss er nur ein Stück wiegen, dann weiß er, was er braucht. Die Waage wandert zurück ins Regal, und er schneidet die restlichen Stücke Kabeljau zu und ordnet sie paarweise - sie liegen extra auf der Seite der Schale. Diese Portionen werden entweder für zwei getrennte Bestellungen in einem Degustationsmenü verwendet - oder kunstvoll zusammen auf dem Teller einer Bestellung arrangiert. Justo trennt sie von den anderen, damit es für die Köche einfacher ist, wenn am gleichen Tisch zwei oder mehr Portionen Kabeljau bestellt werden, weil alle Teller möglichst gleich aussehen sollen (entweder zwei kleinere Stücke Kabeljau - oder ein großes Stück). Das ganze System ist auf Einheitlichkeit und Effizienz ausgerichtet - denn wenn es
hart auf hart kommt, werden die Stücke von einem schwer beschäftigten Koch gebraucht, der richtig Tempo machen muss. Wenn Justo mit dem Kabeljau fertig ist, deckt er die Schalen mit Frischhaltefolie ab, klebt das rote MITTWOCH-Schildchen drauf und setzt den Deckel aus durchsichtigem Plastik auf. Die Kabeljauabschnitte für City Harvest gibt er in ein mit Plastikfolie ausgelegtes tiefes Backblech unter dem Arbeitstisch. Dann drückt er den Knopf für den Aufzug. Er spült seine Messer ab und spritzt die Becken sauber. Er weiß, er hat dafür genau die Zeit, die der Aufzug braucht, um von der À-la-carte-Küche nach unten zu fahren. Justo will keine Sekunde mit Warten verschwenden. Wenn der Aufzug da ist, bringt er die Schale nach oben, öffnet die Tür zum Kühlraum und stellt die Schale genau an die Stelle im Regal, wo der Kabeljau immer hingestellt wird und auch in Zukunft hingestellt werden wird. Die Köche würden den Fisch auch blind finden.
Das Le Bernardin ist ein Fischrestaurant - und Fisch gibt es mehr als genug. Das Eis aus den Fischkisten schmilzt auf dem Boden, und Justo hievt gerade eine riesige Goldmakrele auf den Tisch. Obwohl wir von Fisch umgeben sind,
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