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Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs

Titel: Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Bourdain
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es meistens schon tief in der Nacht, und ich war stockbesoffen, die Art Suff, bei der man sich ein Auge zuhalten muss, damit man überhaupt noch etwas sieht. Auf dem Heimweg machte ich auf der holländischen Seite der Insel am arabischen Imbisswagen halt und schob mir, so gut es ging, eine Pita mit Fleischfüllung in den Mund, wobei mir jedes Mal die Soße über das Hemd lief. Da stand ich dann in einer dunklen Ecke des Parkplatzes, umgeben von einer Korona aus Soße, Salat und Lammfleischstückchen,
und zündete mir noch einen Joint an, ehe ich mich hinter das Steuer meines Mietwagens klemmte, das Verdeck öffnete und mich mit Allradantrieb und quietschenden Reifen auf den Weg machte.
    Anders gesagt: Betrunken am Steuer. Jede Nacht. Nein, ich brauche keine Gardinenpredigt. Ich weiß schon, was alles hätte passieren können. Dass es das eine ist, wenn man sein eigenes lächerliches Leben wegwerfen will. Dass ich damals aber leicht unschuldige Menschen hätte totfahren können. Ich weiß. Im Rückblick bricht mir noch der kalte Schweiß aus, wenn ich nur daran denke. Wie vieles in meinem Leben wird es nicht schöner, nur weil es lange her ist. Es ist geschehen. Es war unrecht. Stimmt.
    Auf der Insel gab es einen kleinen verrückten Privatradiosender, oder vielleicht wurde das Programm auch von einer Nachbarinsel ausgestrahlt - ich habe es nie erfahren. Das war so eine bizarre, unerklärliche Anomalie, denen man auf Reisen manchmal begegnet, wenn man weit genug herumkommt: ein winziger Ein-Mann-Sender am Ende der Welt und ein DJ, der die Musikfolge völlig sinnfrei gestaltete, eine ganz und gar unvorhersehbare Songauswahl traf, die vom wunderbar Obskuren bis hin zum schaurig Abgenudelten reichte. Verloren geglaubter Garagenrock, uralte Psychobilly-Kulthits, Meisterwerke aus der Vor-Disco-Zeit, und dann wieder, völlig unvermittelt, banaler Middle of the Road und Country-Hymnen. Ohne jede Vorwarnung. Gerade lief noch Jimmy Buffet oder Loggins und Messina, und dann kommen unverhofft The Animals mit »House of the Rising Sun« oder Question Mark & the Mysterians mit »96 Tears«.

    Man wusste nie, woran man war. In den seltenen Momenten, in denen ich klar denken konnte und mir ausmalte, was das wohl für ein DJ war und wie er hierher gekommen war, hatte ich immer den Knaben aus dem Film Almost Famous vor Augen, der sich wie ich in der Karibik verkroch, aus Gründen, über die er lieber nicht sprach. Er hatte allerdings die Plattensammlung seiner Schwester aus dem Jahr 1972 dabei. Ich stellte mir vor, wie er in seinem dunklen Studio saß, Gras rauchte und Platten auflegte, scheinbar willkürlich - oder, wie ich, einem düsteren, scheinbar ziellosen, fast unkontrollierbaren Plan folgend.
    So weit hatte ich es also gebracht in meinem Leben, saß betrunken am Steuer und war viel zu schnell auf einer nicht besonders gut beleuchteten Karibikinsel unterwegs. Die Straßen waren in miserablem Zustand, kurvenreich und voller Schlaglöcher. Andere Fahrer, besonders zu so später Stunde, waren, um es freundlich auszudrücken, sehr wahrscheinlich so betrunken wie ich. Und trotzdem brachte ich mich jede Nacht wieder auf Touren, immer schneller. Das Leben war nur noch ein kaum vernehmbarer Witz, ein Videospiel, das ich in- und auswendig kannte. Ich zündete mir einen Joint an, stellte das Radio laut, verließ den Parkplatz, und das Spiel konnte beginnen.
    Was jetzt kam, war das reinste Vergnügen: Wenn ich es durch den etwas dichteren Verkehr auf der niederländischen Seite der Insel geschafft, den unbeleuchteten Golfplatz (oft über die Greens) passiert und die Ruinen der alten Ferienanlage (im hohen Bogen über die Rüttelschwellen) hinter mir gelassen hatte, folgte ich der Straße, bis sie sich zur französischen Seite hin entlang der Klippen zu schlängeln begann.
Hier gab ich erst richtig Gas, und an genau dieser Stelle überließ ich die Kontrolle meinem unbekannten DJ. Eine oder zwei Sekunden lang, wenige Meter, stand Nacht für Nacht mein Leben auf der Kippe, denn vom nächsten Song im Radio machte ich es abhängig, ob ich noch rechtzeitig einlenkte und leichtsinnig weiterraste oder ob ich die Karre einfach auf Kurs hielt und über die Klippe ins Meer schoss. In einer Nacht, die ich nie vergessen werde, wartete ich die kurze Millisekunde zwischen zwei Songs mit dem Fuß auf dem Gaspedal und wurde von den Chambers Brothers gerettet. Ich erkannte auf Anhieb das Ticktack des Metronoms aus »Time Has Come« und riss das Steuer

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