Ein bisschen schwanger
Flimmerkiste eingeschlafen sind. Um zwei Uhr schlafen sie normalerweise schon lange. Natürlich wissen sie, dass dies eine besondere Nacht ist. Vielleicht wollen auch sie wach und klar im Kopf bleiben in der Hoffnung, dass ihnen die geniale Lösung einfallen wird. Mittlerweile wäre ich eher bereit zu glauben, dass ein Engel ihnen im Schlaf die geniale Lösung ins Ohr flüsterte, als dass sie durch reines Nachdenken darauf kommen. Wenn überhaupt, bin ich die Einzige, die auf die Lösung kommen kann. Das Problem ist nur, dass mir die Zeit wegläuft.
»Berlin 2 Uhr 20« zeigt die neue Uhr, die ich letztens mit Rabea zusammen in einem Andenkenladen des Flughafens gekauft habe. Wir wollten Björn abholen, der beruflich für ein paar Tage nach London geflogen war. Da seine Maschine Verspätung hatte, bummelten wir durch die Ladenzeilen, lasen Last-Minute-Angebote und suchten uns zum Spaß Reiseziele aus.
Hätte man mir ein Ticket geschenkt, wäre ich vermutlich überallhin geflogen: Auckland, Mali, Reykjavik.
Aber mein Problem hätte ich mitgenommen, selbst wenn ich auf die andere Seite der Erdkugel geflohen wäre.
Zum Trost für die Reisen, die wir nicht zusammen machen konnten, kauften Rabea und ich uns die Uhr.
Sie hat mehrere Zifferblätter und zeigt jeweils die Uhrzeiten verschiedener Orte der Welt an, so hat man, auch wenn man nie aus Deutschland herauskommt, das Gefühl, Kosmopolit zu sein: eine richtige Fernweh-Uhr.
In Los Angeles ist es jetzt 17 Uhr 22, in New York 20 Uhr 22 und in Rio de Janeiro 21 Uhr 22. Wäre ich jetzt an einem dieser drei Orte, zöge sich der Countdown zu meiner Deadline noch hin, ich stünde vielleicht nicht so unter Druck, die Gnadenfrist wäre ein bisschen länger. Aber würde das etwas ändern?
In Singapur wäre es jetzt 8 Uhr 22, die Zeit abgelaufen, die Operation mitten im Gange. Ich möchte nicht in Singapur sein und auch nirgendwo sonst, wo es jetzt 8 Uhr 22 ist! Aber auch nicht in Sydney, da ist schon 10 Uhr 22 und alles vorbei, nichts mehr rückgängig zu machen, die Schicksalsstunde abgelaufen, das Fallbeil gefallen …
Mach dich gefälligst nicht verrückt! Reiß dich zusammen, noch hast du Zeit, noch ist alles offen.
Manch eine würde sagen: Hätte ich das Schlimmste doch schon überstanden, am besten im Schlaf, am besten in Vollnarkose, am besten mit anschließender Amnesie. Was weg ist, ist weg.
Ich sage, ich will dem Schlimmen so lange ins Auge blicken, bis es mich nicht mehr erschrecken kann.
Hehre Ziele, aber ich habe schon viel geschafft in den letzten Wochen, ein Ungeheuer habe ich schon besiegt, das hat mir Mut gemacht, viel Mut.
Äußerst leise schleiche ich in die Küche. Ich will meine Eltern nicht wecken, auf keinen Fall wieder in die Tretmühle des Redens geraten. Spinnen am Morgen bringt Kummer und Sorgen, Reden in der Nacht – noch nie was gebracht.
Im Hausflur ist alles ruhig, und draußen auf der Straße parken ausschließlich die Autos, die hier hingehören. Ich kann also einen Spaziergang wagen, aber nicht zu weit. Vor der Dunkelheit fürchte ich mich sehr und traue mich heute nur hinaus, weil ich mir sicher bin, dass mich in dieser besonderen Nacht bestimmt keiner überfallen und umbringen wird.
Heute Nacht bin ich quasi unsterblich. Mein Schicksal ist es, eine Entscheidung allein zu treffen, dafür einzustehen, durchzuhalten, den Alptraum zu Ende zu bringen.
Ich trete vor das Haus. Die Straße ist dunkel bis auf das milchige Licht der Laternen und eine erste Weihnachtsbeleuchtung in einem Fenster. Bevor ich losgehe, betrachte ich einen Moment das wechselnde Aufblinken der bunten Lämpchen.
Die Erinnerungen kommen. Meine Auszeit dauert an.
Kontrollgänge
22. – 26. September
Eines Nachts träumte ich, ich müsste zu Patrick zurückkehren. Am Vormittag tauchte er dann prompt in der Schulpause auf. Ganz plötzlich stand er neben mir und Melanie, sie verwickelte er sofort in ein Gespräch, mir warf er schmachtende Blicke zu.
»Ich geh schon mal in die Klasse«, sagte ich, obwohl ich mit meiner Freundin eigentlich noch ein paar Vokabeln für den anstehenden Englischtest nachsehen wollte.
»Ich warte immer noch darauf, dass du zu mir zurückkommst!« Patrick hielt mich am Arm fest. »Hast du vergessen, was wir alles Schönes vorhatten? Ich glaube noch daran, Linda, hab mir gestern noch Wohnmobile angesehen!«
Für einen Moment war der Schock so stark, dass es mir die Sprache verschlug.
»Mäuschen, bitte!«, bat Patrick. Seine blauen
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