Ein Blatt Liebe
Sonne
zugekehrt, deren Strahlen Paris in Flammen setzten. Die schwachen
Beine verweigerten den Dienst. Man müsse eben warten, bis sie recht
viel Suppe äße, scherzte sie wohl mit mattem Lächeln. Man schnitt
ihr rohes Fleisch in die Kraftbrühe. Sie aß es tapfer, weil sie gar
zu gern in den Garten zum Spielen gegangen wäre.
So verstrichen Wochen und Monate in Eintönigkeit, ohne daß
Helene die Tage zählte. Sie ging nicht mehr aus und vergaß über
Jeanne Welt und Leben. Keine Nachricht drang von draußen bis zu
ihr. Das Kind war gerettet, aber die Unruhe wollte sie nicht
loslassen, öfter und öfter sah Helene jenen Schatten wiederkehren,
der Jeannes Gesicht mißtrauisch und böse verfinsterte. Warum
solcher Wechsel inmitten der Freude? Litt das Kind neue
Schmerzen?
»Was du nur hast, mein Liebling! Eben noch lachtest du, und
jetzt bist du traurig. Hast du Schmerzen?«
Jeanne wandte heftig den Kopf und vergrub das Gesicht in den
Kissen.
»Mir ist nichts. Ich bitte dich, laß mich,« sagte sie
unwillig.
Auch der Arzt wußte sich keinen Rat. Stets,
wenn er da war, wiederholten sich die Anfälle, und er schob es auf
die Nervosität der Kranken. Man dürfe ihr vor allem nicht
widersprechen.
Eines Nachmittags schlief Jeanne. Henri, der die Patientin recht
munter und wohlauf gefunden hatte, war noch eine Weile geblieben
und plauderte mit Helene, die wieder mit der gewohnten Näharbeit am
Fenster saß. Seit jener schrecklichen Nacht, in der ihm die
Geliebte aus der Fülle ihres Herzens die Leidenschaft bekannt
hatte, ließen sie sich an jenem süßen Wissen genügen, daß sie
einander in Liebe zugetan waren, unbekümmert um das Morgen,
unbesorgt um die Welt.
Neben Jeannes Krankenbett, in diesem noch vom Todeskampfe
erschütterten Gemache, schützte sie eine herbe Keuschheit vor dem
plötzlichen Überfall ihrer Sinne. Das Atmen des unschuldigen Kindes
hielt Helene im seelischen Gleichgewicht, doch je mehr die Kranke
gesundete, desto stärker wuchs auch ihre Liebe. An diesem Tage
waren sie sehr zärtlich zueinander.
»Ich versichere Sie, daß es nun schnell bergauf gehen wird,«
sagte der Doktor. »Keine vierzehn Tage mehr, und unsere Jeanne wird
im Garten spielen können … «
Während Helene eilig die Nadel führte, flüsterte sie:
»Gestern ist sie noch sehr traurig gewesen. Aber heute morgen
hat sie gelacht und mir versprochen, besonders artig zu sein.«
Ein langes Stillschweigen folgte. Das Kind schlief noch, und
sein Schlummer hüllte es in den tiefen Frieden der Genesung. Wenn
sie ruhte, fühlten sich beide erleichtert und einander
zugehörig.
»Sie haben unsern Garten lange nicht mehr
gesehen, er ist jetzt ein Blumenmeer.«
»Die Margeriten blühen schon, nicht wahr?«
»Ja, das Beet ist ganz herrlich. Die Waldreben sind bis in die
Ulmen hinaufgerankt, ein richtiges Blätternest … «
Wieder stand das Schweigen um sie. Helene legte die Näharbeit
beiseite und blickte lächelnd auf. Gemeinsam gingen sie in Gedanken
in einer tiefen Schattenallee, in die es Rosen regnete.
Henri sog den leichten Verbenenduft ein, der ihrem Hauskleide
entströmte. Die Schlafende rührte sich.
»Sie wacht auf,« sagte Helene, den Kopf hebend.
Henri war zur Seite getreten. Jeanne hatte das Kopfkissen
zwischen die Arme genommen und ihnen den Kopf zugewandt. Aber die
Augen waren geschlossen, und sie schien wieder einzuschlafen.
Langsam und regelmäßig gingen die Atemzüge.
»Sind Sie immer so fleißig?« fragte er und trat wieder neben
Helene.
»Ich kann nicht müßig sitzen. Die Arbeit lenkt mich nicht ab.
Dann denke ich stundenlang über das gleiche nach … «
Er schwieg und folgte der Nadel, die mit leisem taktmäßigem
Geräusch den Kattun durchstach. Es schien ihm, als ob diese Nadel
Teilchen um Teilchen ihrer Seelen verknüpfte. Die Geliebte hätte
stundenlang nähen können, er wäre geblieben, nur um der Sprache der
Nadel zu lauschen … Oh, diese köstliche Stille, dieses
Schweigen, in dem nur ihre Herzen sprachen. Unendliche Süße, die
sie mit Liebe und Ewigkeit erfüllte.
»Sie sind gut, o wie gut Sie sind,« flüsterte Henri, die große
Freude ließ ihn kein anderes Wort finden.
Wieder hatte Helene den Kopf gehoben und sah
Henris Gesicht neben dem ihren.
»Lassen Sie mich arbeiten,« flüsterte sie. »Ich werde ja sonst
niemals fertig.«
Plötzliche Unruhe zwang sie, den Kopf zu wenden. Da lag Jeanne.
Mit todblassem Gesicht hatte Jeanne die tiefschwarzen Augen glühend
auf sie gerichtet. Noch
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