Ein Blatt Liebe
letzten verzweifelten Versuch um Leben und Tod
ginge. Als die Blutegel gebracht waren, sah er ihr den Ekel an.
»O Gott! O Gott! Wenn Jeanne nun stirbt … «
Er mußte ihr das Einverständnis mit dieser Behandlung
abringen.
»Nun denn, setzen Sie sie an! Aber möge der Himmel Ihnen Hilfe
leihen!« Helene hatte das Kind nicht aus den Armen gelassen. Sie
weigerte sich auch, aufzustehen, denn sie wollte den Kopf der
Kleinen an ihrer Schulter fühlen. Deberle sprach kein Wort. Sein
Gesicht zeigte einen letzten gespannten Ausdruck, und sein Geist
war ganz Konzentration. Zuerst wollten die Blutegel nicht fassen.
Minuten verstrichen. Der Pendel der Standuhr in dem großen,
schattengetränkten Raume hackte sein unerbittliches hartnäckiges
Ticktack in die Stille. Jede Sekunde trug eine Hoffnung hinweg.
Unter dem gelben Lichtkreis der Hängelampe hatte der bloße Körper
des Kindes zwischen den zurückgeworfenen
Bettüchern eine wächserne Blässe angenommen. Helene sah trocknen
Auges, vom Schmerz zermartert, auf die kleinen, absterbenden
Glieder. Um einen Tropfen vom Blute ihres Kindes zu sehen, hätte
sie gern das eigene dahingegeben. Endlich zeigte sich ein roter
Tropfen. Die Egel hatten gefaßt. Einer nach dem andern saugte sich
fest. Das Leben des Kindes entschied sich. Es waren fürchterliche
Minuten voll peitschender Erregung. War dies schon der letzte
Hauch, der Seufzer des Todes, mit dem Jeannes Leben entfloh? Oder
war es des Lebens Wiederkehr? Helene fühlte, wie das Kind
erstarrte. Rasende Lust packte sie, die gierig schlürfenden Tiere
wegzureißen. Aber eine höhere Gewalt ließ ihre Hände sinken, mit
offenem Munde erstarrte sie zu Eis. Der Pendel hackte weiter sein
grausames Ticktack, und das halbdunkle Gemach schien angstvoll zu
warten.
Jetzt bewegte sich das Kind. Langsam hoben sich die Lider, dann
sanken sie wieder, verwundert und müde. Ein leichtes Zittern,
gleich einem Hauche, glitt über das totenblasse Gesicht. Jeanne
bewegte die Lippen. Helene beugte sich gierig gespannt in heftiger
Erwartung vor.
»Mama, Mama!« flüsterte Jeanne.
Da trat Henri ans Kopfende des Bettes neben die junge Frau.
»Sie ist gerettet!«
»Sie ist gerettet… sie ist gerettet… gerettet!« Helene stammelte
es von Freude übermannt. Sie war neben dem Bette zu Boden geglitten
und schaute mit irrem Blick bald auf die Kranke, bald auf den
Arzt.
Mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie auf und warf sich dem
Retter an den Hals.
»Ah! Ich liebe dich!«
Sie küßte ihn, umschlang ihn. Das war ihr
Geständnis, ihr so lange zurückgedrängtes Geständnis! Endlich war
es ihr in dieser Herzenskrise entschlüpft. Die Mutter und das
liebende Weib wurden eins. Helene bot ihre Liebe dankerfüllt
dar.
»Ich weine. Du siehst, ich kann noch weinen. Ach Gott! Wie ich
dich liebe. Wie glücklich werden wir sein.«
Die Glückliche hatte zum vertrauten Du gefunden und schluchzte.
Der Quell ihrer Tränen, der seit Wochen versiegt war, rieselte über
ihre Wangen. Sie blieb in seinen Armen, vertraulich und kosend wie
ein Kind, fortgerissen von diesem Aufwallen ihrer Zärtlichkeit.
Dann sank sie auf die Knie. Sie hob Jeanne wieder auf den Arm, sie
an ihrer Schulter einzuschläfern, und während das Kind in Schlaf
fiel, sandte sie Henri einen liebeverheißenden Blick.
Es wurde eine glückselige Nacht. Der Doktor blieb sehr lange.
Jeanne lag ausgestreckt in ihrem Bettchen, bis zum Kinn zugedeckt.
Das feine braune Köpfchen war in den Kissen vergraben. Jeanne
schloß erleichtert und ermattet die Augen, ohne zu schlafen. Die
Lampe auf dem Ecktischchen neben dem Kamin erhellte nur eine Ecke
des Zimmers und ließ Henri und Helene, die zu beiden Seiten des
schmalen Bettes saßen, in einem undeutlichen Schatten.
Das Kind trennte sie nicht, brachte sie vielmehr mit seiner
Unschuld an diesem ersten Liebesabend einander näher. Sie atmeten
tiefen Frieden nach den langen Tagen der Angst, die sie durchlebt
hatten. Endlich fanden sie sich Seite an Seite mit weit offenen
Herzen. Sie fühlten, daß sie sich nach den gemeinsam bestandenen
Schrecken und Freuden nur noch stärker liebten.
Das Krankenzimmer wurde zum Mitschuldigen;
es war so heimelig, so erfüllt mit jenem Frommsein, das als
bewegtes Schweigen um ein Krankenbett lagert. Zuweilen stand Helene
auf und ging auf den Fußspitzen, einen Trank zu holen, die Lampe
heraufzuschrauben oder Rosalie eine Anweisung zu geben. Dann winkte
ihr der Doktor, leise aufzutreten. Wenn Helene ihren Platz
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