Ein Blatt Liebe
seinem Kollegen Doktor Deberle, der
dem alten Herrn gegenüber große Ehrerbietung zeigte. Auch der
Priester und Herr Rambaud kamen jeden Abend und verbrachten in
bangem Schweigen eine Stunde bei der Freundin. Doch auch von ihnen
wollte das Kind nichts wissen. Die Brüder mochten sich noch so sehr
in eine Ecke drücken, Jeanne fühlte sofort ihre Anwesenheit. Dann
warf sie sich ungeduldig herum und lallte:
»Oh, Mama! Mir ist schlecht… ich ersticke
vor Hitze… schick doch die Leute fort… bitte gleich… «
Helene gab dann den Freunden schonend zu verstehen, daß die
Kleine schlafen wolle, und sie gingen mit gesenkten Köpfen weg.
Dann tat Jeanne einen tiefen Atemzug, schaute im Zimmer umher und
heftete dann ihre Augen mit unsagbarer Zärtlichkeit auf Mutter und
Arzt.
»Guten Abend… jetzt ist's mir wohl… bleibt bei mir!«
Drei Wochen fesselte die Krankheit das Kind ans Bett. Zu Anfang
war Henri täglich zweimal gekommen, brachte dann bald die ganzen
Abende dort zu und widmete dem Kinde alle Stunden, über die er
verfügen konnte. Zuerst hatte er an ein typhusähnliches Fieber
geglaubt, aber bald hatten sich so widersprechende Merkmale
gezeigt, daß sich der Arzt nicht mehr auskannte. Es handelte sich
zweifellos um die Anzeichen einer Bleichsucht, die so schwer
feststellbar ist und deren Komplikationen im Pubertätsalter oft
sehr bedenklich werden können. Deberle fürchtete, daß das Herz und
auch die Lunge angegriffen sei. Was ihm zu schaffen machte, war die
nervöse Aufgeregtheit der kleinen Patientin, die er nicht zu
beruhigen vermochte, und vor allem jenes heftige hartnäckige
Fieber, das der ärztlichen Behandlung energischen Widerstand
entgegensetzte. Er widmete diesem seltsamen Fall all sein Können
mit dem einzigen Gedanken, daß er sein Glück, sein eigenes Leben
behandele. Ein großes Schweigen, getragen von einer feierlichen
Erwartung, war in ihm. Nicht ein einziges Mal erwachte in diesen
Wochen der Angst seine Leidenschaft. Es erregte ihn nicht, wenn
Helenes Atem ihn streifte. Wenn ihre Blicke sich begegneten,
sprachen sie von der freundschaftlichen Trauer zweier Menschen, die
ein gemeinsames Unglück bedroht.
Eines Abends erriet Helene, daß Henri ihr
etwas verheimliche. Seit Minuten schon beobachtete er Jeanne
prüfend, ohne ein Wort zu sprechen. Die Kleine klagte über
unerträglichen Durst. Sie würgte, und ihre ausgedörrte Kehle ließ
ein ständiges Pfeifen hören. Das Gesicht war tief gerötet, und eine
dumpfe, schwere Müdigkeit umfing sie, so daß sie nicht einmal die
Augen zu öffnen vermochte. Sie lag matt und bewegungslos, nur das
Röcheln verriet ihr Leben.
»Es geht ihr sehr schlecht, nicht wahr?« fragte Helene
stockend.
Nein, aber es sei noch keine Änderung eingetreten. Henri war
sehr blaß, sein Unvermögen drückte ihn schwer. Da sank Helene trotz
aller Selbstbeherrschung auf ihrem Stuhle zusammen.
»Sagen Sie mir alles. Sie haben versprochen, mir die Wahrheit zu
sagen. Geht es zu Ende?« Und als er schwieg, drängte sie mit
Heftigkeit:
»Sie sehen ja, daß ich stark bin. Weine ich etwa? Verzweifle ich
denn? Sprechen Sie! Die Wahrheit will ich wissen!«
Henri sah sie fest an.
»Nun denn! Die Krise ist da. Wenn sie nicht binnen einer Stunde
diese Schläfrigkeit überwunden hat, ist es vorüber.«
Helene gab keinen Laut von sich. Eiseskälte kroch an ihrem
Körper hinauf, und das Entsetzen trieb ihr das Haar zu Berge. Ihre
Augen senkten sich auf Jeanne. Sie fiel auf die Knie und nahm das
Kind schützend in die Arme, wie um es an ihrer Schulter zu hüten.
Während einer bangen Minute brachte sie ihr Gesicht dicht an das
des Kindes und tränkte es mit ihren Blicken, wollte ihm den
eigenen Atem, das eigene Leben leihen. Das
Röcheln der Kranken wurde schwächer und schwächer.
»Ist denn gar nichts zu machen?« fragte sie verzweifelt. »Warum
sitzen Sie da müßig herum? … Tun Sie doch irgend etwas …
Tun Sie doch etwas … Was soll ich denn tun? Sie werden sie
doch nicht sterben lassen … «
»Ich werde alles tun,« sagte der Doktor schlicht.
Deberle hatte sich erhoben. Er wollte den Kampf aufnehmen. All
seine Kaltblütigkeit und Entschlossenheit raffte er zusammen. Hatte
er bisher noch nicht die Anwendung schärfster Mittel aus Furcht,
den schwachen Körper noch mehr zu entkräften, gewagt, jetzt zögerte
der Arzt nicht länger. Er schickte Rosalie zur Apotheke und ließ
ein Dutzend Blutegel holen. Er verheimlichte auch der Mutter nicht,
daß es bei diesem
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