Ein Blatt Liebe
einem Russen gesprochen,« antwortete Pauline
erregt. »Man liebt uns in Petersburg. Dort haben wir unsere wahren
Verbündeten zu suchen… «
»Ach, halt doch den Mund; redest daher wie eine dumme Gans.
Hättest du die Frage so studiert wie ich… «
Die Orientfrage beschäftigte damals ganz Paris.
Frau Deberle unterbrach sich, Helene zu begrüßen:
»Guten Tag, meine Liebe! Nett, daß Sie gekommen sind… Wissen Sie
schon? … Heute morgen hat man von einem Ultimatum gesprochen.
In der Kammer ist es sehr laut hergegangen.«
»Nein, ich weiß von nichts,« antwortete Helene verblüfft. »Ich
gehe so wenig aus.«
Inzwischen war Henri eingetreten. In der Hand trug er einen Pack
Zeitungen. Ihre Augen hatten einander gesucht, und sie hatten sich
eine Weile prüfend angeschaut; dann umschlossen sie einander mit
einem langen verschwiegenen Händedruck.
»Nun was gibt's Neues in den Zeitungen?« fragte Juliette.
»In den Zeitungen, meine Liebe? Aber da steht ja niemals etwas
drin.«
Es war nun zu wiederholten Malen von jemandem die Rede, auf den
man wartete und der nicht kam. Pauline meinte, daß es gleich drei
Uhr sei. Oh, er würde schon noch kommen, behauptete Frau Deberle,
er hätte es fest versprochen. Aber auch sie nannte keinen Namen.
Helene hörte zu, ohne zu verstehen. Alles, was nicht Henri
betraf, interessierte sie nicht. Doch
unterhielt sie sich mit Juliette, während Henris Blick der sie noch
immer nicht losließ, sie wohlig ermattete. Jetzt trat er hinter
sie, als wolle er eine Jalousie aufziehen. Sie fühlte, daß er ein
Stelldichein forderte, an dem Schauer, als er ihr Haar streifte.
Sie willigte ein, besaß nicht mehr die Kraft zu warten… Helene
empfand nur das Bedürfnis, dem Geliebten ihr übervolles Herz zu
öffnen und ihm alles Glück zu bekennen, das sie zu ersticken
drohte. Und während Juliette und Pauline über die Kleider stritten,
die sie in der kommenden Saison nötig hätten, gab sie ihre
Einwilligung…
»Komm heute nacht… ich werde auf dich warten … «
Als Helene endlich hinaufging, lief ihr schon Rosalie aufgeregt
entgegen:
»Madame! schnell, schnell, Madame! Das Fräulein ist nicht
wohl … Es spuckt Blut!«
Kapitel 18
Als er sich nach dem Essen erhob, sprach der Doktor zu seiner
Frau von einer Niederkunft, zu der er wahrscheinlich noch in der
Nacht gerufen würde. Um neun Uhr ging er fort und wanderte im
nächtlichen Dunkel die leeren Kais entlang. Es wehte ein schwacher,
feuchter Wind, und die hochgehende Seine rauschte. Als es elf Uhr
schlug, stieg er wieder die, Hänge des Trocadero hinauf und
schlenderte um das Haus, dessen viereckige Masse das Dunkel noch
verstärkte. Die Fenster ihres Eßzimmers waren noch erleuchtet.
Schatten glitten unruhig an den Fenstern, hin. Vielleicht war Herr
Rambaud zu Tisch geblieben? Aber der blieb ja nie länger als bis
zehn Uhr. Deberle wagte nicht hinaufzugehen. Was hätte er auch
sagen sollen, wenn Rosalie öffnete? Gegen Mitternacht ließ er
endlich alle Vorsicht beiseite und klingelte.
»Sie sind's, Herr Doktor! Kommen Sie herein,« sagte Rosalie.
»Madame wird Sie gewiß erwarten. Ich werde Sie melden.«
Das Dienstmädchen schien keineswegs verwundert, den Doktor um
diese Stunde hier zu sehen. Während er ins, Eßzimmer trat, klagte
Rosalie:
»Das Fräulein ist sehr, sehr krank, Herr Doktor. Eine
fürchterliche Nacht! Ich kann kaum noch meine Füße fühlen… «
Das Mädchen war gegangen, und der Doktor hatte mechanisch Platz
genommen. Er vergaß, daß er Arzt war. Drunten an der Seine hatte er von diesem Zimmer
geträumt, in das ihn Helene führen würde. Einen Finger würde sie
auf die Lippen legen, um Jeanne nicht zu wecken, die im Kämmerchen
nebenan schlief. Die Nachtlampe würde brennen, das Zimmer im tiefen
Dunkel liegen, und ihre Küsse würden verschwiegen sein… Und jetzt
saß er da, als wolle er einen Besuch machen, den Hut vor sich und
wartete. Hinter der Tür bellte ein hartnäckiger Husten durch das
tiefe Schweigen.
Rosalie kam zurück, ging hastig durchs Zimmer, eine Schüssel in
der Hand, und sagte im Vorbeigehen:
»Madame sagt, Sie möchten nicht hereinkommen.«
Deberle blieb sitzen und konnte sich nicht entschließen, zu
gehen. Hatte sie das Stelldichein auf den nächsten Tag verschoben?
Dann bedachte er, daß dieser armen Jeanne vielleicht doch etwas
fehlen könne. Man hatte ja mit Kindern nur Kummer und
Unannehmlichkeiten … Wieder öffnete sich die Tür. Doktor Bodin
zeigte sich und bat
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