Ein Blatt Liebe
vielmals um Entschuldigung. Einen Augenblick
suchte er nach Höflichkeiten. Man habe ihn gerufen, und er würde
sich jederzeit glücklich schätzen, sich mit einem so hervorragenden
Kollegen zu beraten.
»Gewiß, gewiß, Herr Kollege,« murmelte Doktor Deberle
mechanisch.
Der alte Arzt tat verlegen, als wolle er mit seiner Diagnose des
Falles nicht heraus. Mit leiser Stimme erörterte er
fachwissenschaftlich die Symptome und unterbrach sich schließlich
mit einem Blinzeln. Es wäre ein Husten ohne Auswurf, dazu große
Abgespanntheit und starkes Fieber. Vielleicht stände man hier vor
einem typhoiden Fieber. Indessen sprach er sich nicht aus; bei der
chloro-anämischen Neurose, auf die hin man die Kranke schon so lange behandele, lägen jedenfalls
unvorhergesehene Komplikationen nahe.
»Was halten Sie davon?« fragte er nach jedem Satze.
Doktor Deberle antwortete ausweichend. Während der Kollege auf
ihn einredete, überkam ihn ein Gefühl tiefer Beschämung.
»Ich habe zwei Schröpfköpfe angesetzt,« fuhr der alte Arzt fort.
»Ich warte ab … Aber Sie sollen sie sehen… Sie sollen mir dann
Ihre Diagnose sagen.«
Damit zog er ihn ins Krankenzimmer. Henri trat bebend näher. Der
Raum war von einer Lampe matt erhellt. Er dachte an ähnliche Nächte
mit dem gleichen warmen Dufte, derselben Stickluft und den gleichen
tiefen Schatten, in denen Möbel und Gardinen schlummerten. Niemand
trat ihm mit ausgestreckten Händen entgegen wie ehedem. Herr
Rambaud schien in seinem Sessel zu schlummern. Helene stand im
weißen Hauskleide vor dem Bett. Sie wandte sich nicht um, und
Deberle erschien diese blasse Gestalt von ragender Größe. Eine
Minute blickte er prüfend auf Jeanne. Sie war so schwach, daß sie
die Augen nur mit Anstrengung zu öffnen vermochte. In Schweiß
gebadet, lag sie bleischwer mit fahlem, auf den Backenknochen mit
hektischer Röte übergossenem Gesicht.
»Akute Schwindsucht,« entfuhr es Deberle laut. Er schien auch
als Arzt nicht sonderlich überrascht, als hätte er diese Krise
schon lang vorausgesehen.
Helene hatte verstanden und sah ihn an. Es überlief sie kalt,
ihre Augen waren trocken und ihre Ruhe erschreckend.
»Meinen Sie?« sagte Doktor Bodin, den Kopf wiegend, mit der
beifälligen Miene eines Mannes, der die eigene unausgesprochene
Ansicht bestätigt findet. Der alte Arzt
untersuchte die Kranke von neuem. Jeanne fügte sich willenlos, ohne
zu wissen, weshalb man sie so quälte. Es wurden zwischen den Ärzten
ein paar, hastige Worte gewechselt. Bodin sprach von amphorischer
Respiration und kapillarer Bronchitis. Doktor Deberle erklärte, daß
eine zufällige Ursache die Krise gebracht haben dürfte;
wahrscheinlich eine Erkältung. Er selbst hätte schon des öfteren
die Tendenz der Chloro-Anämie zu Brustkrankheiten beobachtet.
Helene stand hinter ihnen und wartete.
»Untersuchen Sie die Kranke doch einmal selbst,« sagte Doktor
Bodin, dem Kollegen Platz machend.
Deberle beugte sich nieder, um die Kranke zu befühlen. Sie hatte
die Lider nicht aufgeschlagen und überließ sich ihm, vom Fieber
verzehrt. Kaum aber, daß Henris Finger sie streiften, traf es
Jeanne wie ein elektrischer Schlag. Sie preßte die mageren Ärmchen
vor die Brust und stammelte:
»Mama! Mama!«
Dann schlug sie die Augen voll auf. Als sie den Mann erkannte,
der vor ihr stand, malte sich auf ihrem Gesicht tödliches
Erschrecken. Wieder schrie sie auf:
»Mama! Mama! Bitte … bitte… «
Helene, die noch kein Wort gesprochen hatte, trat jetzt neben
Henri. Ihr starres Antlitz glich dem gemeißelten Marmor, und mit
erstickter Stimme brachte sie das einzige Wort heraus:
»Gehen Sie!«
Bodin versuchte Jeanne, die von einem Hustenkrampf in ihrem
Bettchen hin und her geworfen wurde, zu beruhigen.
Er versicherte der Kranken, daß jeder gehen solle, sie solle
ihre Ruhe haben…
»Gehen Sie doch,« sagte Helene mit ihrer
leisen tiefen Stimme dem Liebhaber ins Ohr… »Du siehst doch, daß
wir sie auf dem Gewissen haben… «
Da ging Henri hinaus, ohne ein Wort des Abschieds zu finden. Er
wartete noch eine Weile im Eßzimmer, ohne zu wissen worauf. Als
Doktor Bodin noch immer nicht herauskam, tastete er die Treppe
hinunter, ohne Rosalie um Licht zu bitten.
Er dachte an den schnellen Verlauf einer akuten Phtisis, einen
Fall, den er viel studiert hatte. Die Tuberkeln würden sich rapide
vermehren und die Erstickungsanfälle sich häufen. Jeanne würde
keine drei Wochen mehr zu leben haben…
Acht Tage verstrichen.
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