Ein Blatt Liebe
den
Dielen. In der Kammer tastete sie sich an den Möbeln entlang.
Jeanne hatte nicht einmal die Kraft zum Weinen, trotz dem Feuer,
das ihren Leib verbrannte. Die Mutter hatte sie zu Bett gebracht.
Sie konnte ihr nicht einmal das Haar für die Nacht lösen, so eilig
hatte es das Kind, sich selbst das Kleidchen auszuziehen. Sie
schlüpfte auch ganz allein ins Bett und schloß rasch die Augen.
»Ist dir's jetzt besser?« fragte Helene und zog ihr die Decke
zurecht . »Viel besser. Laß mich.«Rühr
mich nicht an … Nimm das Licht hinaus … .«
Sie wünschte nur eins, im Dunkeln allein zu sein, um die Augen
wieder zu öffnen und ihr Weh zu fühlen, ohne daß jemand sie
beobachtete.
Kapitel 17
Helene faßte am andern Morgen neue Entschlüsse. Sie erwachte mit
dem Gedanken, nun selbst ihr Glück hüten zu müssen, ständig in
Furcht, Henri durch irgendeine Unklugheit zu verlieren. Zuerst also
mußte sie Juliette noch an diesem Morgen einen Besuch machen. So
würde sie verdrießlichen Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen,
allerlei peinlichen Fragen, die alles in Gefahr bringen
konnten.
Als sie gegen neun Uhr bei Frau Deberle eintrat, fand Helene sie
bleich und mit geröteten Augen wie eine dramatische Heldin. Sobald
sie Helenes ansichtig wurde, warf sich ihr Juliette in die Arme und
nannte sie ihren guten Engel. Sie liebe ja diesen Malignon ganz und
gar nicht… Oh, darauf lege sie einen Eid ab!… Du lieber Himmel!
Welch dummes Abenteuer! … Wie hübsch, jetzt wieder völlig frei
zu sein! … Juliette lachte behaglich, dann schluchzte sie
wieder und bat die Freundin flehentlich, sie nicht zu verachten.
Auf dem Grunde ihrer fieberhaften Erregung lauerte die Furcht, daß
ihr Mann vielleicht alles wisse. Er war gestern stark erregt nach
Hause gekommen. Sie überschüttete Helene mit Fragen. Und Helene
erzählte ihr mit einer unverfrorenen Leichtigkeit, die sie selbst
verwunderte, eine erfundene Geschichte. Sie beteuerte Frau Deberle,
daß ihr Gatte nicht die leiseste Ahnung habe, und Juliette glaubte
ihr freudestrahlend zwischen Tränen. Sie warf sich ihr an den
Hals.Und Helene fühlte sich durch solche
stürmische Liebkosung nicht unangenehm berührt und machte sich
keine geheimen Vorwürfe mehr.
Einige Tage vergingen. Helenes ganzes Leben fand sich verändert.
Sie lebte nicht mehr bei sich zu Hause, all ihre Gedanken waren bei
Henri. Nichts gab es für sie als das Doktorhaus, wo ihr Herz
schlug. Sobald sie einen Vorwand fand, ging sie hinüber und blieb
dort, zufrieden, die gleiche Luft zu atmen.
In diesem ersten Rausch des Besitzes stimmte sie sogar der
Anblick Juliettes zärtlich. Trotzdem hatte Henri noch keine Minute
wieder mit ihr allein sein können.
Helene schien die Stunde eines zweiten Stelldicheins absichtlich
hinauszuzögern, und doch fühlte ihr Herz keinen anderen Wunsch. Sie
blieb gegen alles andere und gegen alle andern gleichgültig Und
verlebte ihre Tage in der Hoffnung auf eine neue Gelegenheit. Ihr
Glück wurde einzig durch die Unruhe gestört, daß Jeanne neben ihr
hustete. Jeanne hatte jetzt immer häufiger einen trockenen Husten,
der sich gegen Abend zu steigern pflegte. Sie hatte auch leichtes
Fieber, und Nachtschweiß schwächte sie während des Schlummers. Wenn
die Mutter fragte, versicherte sie, nicht krank zu sein und keine
Schmerzen zu haben. Jedenfalls war es nur ein tüchtiger Schnupfen.
Helene beruhigte sich mit dieser Erklärung und hatte dennoch
inmitten des Traumzustandes die ungewisse Empfindung eines
Schmerzes, der sich wie eine Last an einer Stelle, die sie nicht
hätte nennen können, empfindlich bemerkbar machte. In solchen
Freuden ohne Ursache, gänzlich von Zärtlichkeit erfüllt, überkam
sie dann wieder eine Herzensangst, als ob ein Unglück hinter ihr
lauere. Wer zu glücklich ist, bangt immer.
Jeanne hatte wieder gehustet, aber sie trank ihren Tee, und so
würde es wohl nicht viel auf sich haben. Helene wandte sich ihr zu
und lächelte.
An einem Nachmittage sprach Doktor Bodin zufällig vor, wie er es
als Freund des Hauses gewohnt war, Er blieb diesmal ziemlich lange
und beobachtete Jeanne mit seinen kleinen blauen Äugen. Er tat
scherzhaft und fragte das Kind aus. An diesem Tage äußerte er sich
nicht.
Nach zwei Tagen kam er wieder und brachte diesmal, ohne Jeanne
zu untersuchen, mit der Fröhlichkeit des alten Mannes, der viel
gesehen hat, das Gespräch aufs Reisen. Vor Jahren hatte er als
Wundarzt beim Militär gedient und kannte Italien wie
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