Ein Blatt Liebe
gegeben, um sie von
unerträglichen Schmerzen abzulenken, und nun verteidigte das Kind
grimmig seinen Besitz. Die Puppe, mit dem Porzellankopf auf das
Kopfkissen gelehnt, lag da wie eine
Kranke, bis an die Schultern zugedeckt. Das Kind schien sie in der
Phantasie zu pflegen, denn von Zeit zu Zeit streichelte es mit den
brennend heißen Händen die fleischfarbenen Glieder, aus denen die
Sägespäne schon herausgerieselt waren. Stundenlang wichen die Augen
der Kranken nicht von den starren Glasaugen, die ewig zu lächeln
schienen. Dann fühlte Jeanne wohl eine zärtliche Regung, drückte
die Puppe an ihre Brust und legte kosend die Wange an die winzige
Perücke. So flüchtete sie in die Liebe ihrer Puppe, und wann immer
sie aus ihrem Dahindämmern aufwachte, vergewisserte sie sich, daß
sie noch da sei. Sie plauderte mit ihr und antwortete, als hätte
die Puppe ihr etwas ins Ohr geflüstert, und über ihr Gesicht glitt
der Schatten eines armen Lächelns.
Die dritte Woche ging zu Ende. Der alte Doktor Bodin blieb eines
Morgens lange, und Helene wußte, daß ihr Kind den Tag nicht
überleben würde. Seit gestern lag sie in einer Betäubung, die ihr
das Bewußtsein der eigenen Handlungen raubte. Man zählte die
Stunden. Als die Sterbende über heftigen Durst klagte, hatte der
Arzt einfach angeordnet, ihr einen schwach mit Opium versetzten
Trank zu reichen, der ihren Todeskampf erleichtern sollte.. Dieser
Verzicht auf jegliches Heilmittel nahm Helene die letzte Kraft.
Solange auf dem Nachttische die Arzneiflaschen standen, hatte sie
immer noch auf ein Wunder der Heilung gehofft. Jetzt war der letzte
Glaube geschwunden, und sie fühlte nur noch den Trieb der Mutter,
bei ihrem Kinde zu bleiben und es nicht zu verlassen. Der Doktor,
der ihr den Anblick dieses Sterbens nehmen wollte, bat sie um
allerlei kleine Verrichtungen. Aber stets kam Helene wieder herein,
stand dann kerzengerade mit schlaffen Armen und
wartete. Gegen ein Uhr kamen Abbé Jouve
und Herr Rambaud. Der Arzt ging ihnen entgegen und sagte nur ein
Wort. Ergriffen blieben die Brüder stehen, und ihre Hände
zitterten. Helene hatte sich nicht umgewandt.
Der Tag war prächtig, einer jener sonnenlieblichen Tage in der
ersten Hälfte des April. Jeanne rührte sich in ihrem Bettchen.
Verzehrender Durst wölbte zuweilen die fieberheißen Lippen. Sie
hatte, die Decke von ihren durchsichtigen Händen gestreift und
bewegte sie schwach im leeren Raume. Die Krankheit hatte ihr Werk
getan. Die Sterbende hustete nicht mehr, und ihre verlöschende
Stimme glich einem Hauche. Noch einmal wandte sie den Kopf und
suchte mit den Augen das Licht. Doktor Bodin öffnete weit das
Fenster. Da wurde Jeanne ruhig und blickte, mit der Wange in das
Kissen gelehnt, auf Paris, während ihr Atem langsam
verröchelte.
Es hatte soeben vier Uhr geschlagen. Schon senkte der Abend
seine blauen Schatten. Das war also das Ende, ein langsamer
Todeskampf durch Ersticken. Das Opfer hatte nicht mehr die Kraft
sich zu wehren. Herr Rambaud war schluchzend hinter einen Vorhang
getreten. Der Priester sank zu Häupten der Sterbenden in die Knie,
hatte die Hände gefaltet und murmelte die Sterbegebete.
»Jeanne, Jeanne,« flüsterte Helene, von einem Entsetzen gepackt,
das ihr durch Mark und Bein ging.
Sie hatte den Arzt beiseite geschoben, warf sich zur Erde und
vergrub ihren Kopf in den Kissen, um der Tochter ganz nahe zu sein.
Jeanne schlug die Augen auf, ohne die Mutter zu erkennen. Ihre
Blicke gingen aus dem Fenster auf das in Schlummer sinkende Paris.
Sie drückte ihre Puppe, ihre letzte Liebe, an sich und seufzte
leicht auf. Ihre Augen wurden glasig, und in ihrem
Gesicht stand eine große Angst. Endlich
schien sie Erleichterung gefunden zu haben und atmete nicht mehr.
Der Mund stand offen.
»Es ist zu Ende,« sagte der Arzt und nahm ihre Hand.
Mit großen toten Augen blickte Jeanne auf Paris. Ihr Gesichtchen
war schmal geworden, und ein grauer Schatten lag unter ihren
Wimpern. Der Kopf der Puppe hing vornüber, auch sie schien tot zu
sein.
»Es ist zu Ende,« sagte Doktor Bodin noch einmal und ließ die
Hand der Toten sinken.
Helene preßte die Fäuste an die Schläfen, als wolle ihr der
Schädel zerspringen. Irr blickte sie um sich. Dann erschütterte sie
ein trockenes Schluchzen.
Am Fußende des Bettes waren ein Paar Kinderschuhe
stehengeblieben. Jeanne würde nun diese Schuhe nie mehr anziehen,
man könnte sie an die Armen verschenken. Da flossen ihr
unaufhörlich die Tränen. Helene
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