Ein Blatt Liebe
Morgens fragte sie die
Mutter:
»Ist heute nicht Sonntag?«
»Nein, mein Kind,« antwortete Helene. »Heute ist erst
Freitag … Warum willst du das wissen?«
Doch Jeanne schien die Frage schon wieder vergessen zu haben.
Als Rosalie nach zwei Tagen im Zimmer war, sagte sie halblaut:
»Heute ist Sonntag … Zephyrin ist da … Zephyrin soll
hereinkommen … «
Das Mädchen zögerte, aber Helene nickte ihr gewährend zu.
»Zephyrin soll hereinkommen! Kommt alle beide her!«
Als Rosalie mit Zephyrin kam, richtete sich Jeanne mühsam auf.
Der kleine Soldat, der ohne Kopfbedeckung war und nicht wußte, wo
er seine breiten Hände lassen sollte, trat aufgeregt von einem Fuß
auf den andern. Zephyrin liebte das kleine Fräulein herzlich. Er
blieb auch trotz der Bedenken Rosalies, die ihm gesagt hatte, er
müsse recht lustig tun, nur stumm und traurig, als er das Kind so
elend und mitgenommen sah. Bei all seinem Draufgängertum hatte er
im Grunde ein weiches Herz. Heute fand er keine der schön
gedrechselten Redensarten, die ihm sonst so vergnüglich zu Gebote
standen. Rosalie zwickte ihn ein wenig, um ihn zum Lachen zu
bringen, doch Zephyrin brachte nur stotternd heraus:
»Ich bitte recht sehr um Verzeihung, das gnädige Fräulein und
die ganze Gesellschaft … wenn ich störe … «
Jeanne stützte sich noch immer auf die abgemagerten Arme. Weit
riß sie die großen hohlen Augen auf, als blende sie die Helligkeit inmitten des Schattens, in
dem sie bereits weilte.
»Kommen Sie doch näher, lieber Freund,« redete Helene dem
Soldaten zu. »Das Fräulein hat sich so sehr auf Ihr Kommen
gefreut.«
Die Sonne schien durchs Fenster und zeichnete einen großen
gelben Kringel, in welchem die Staubteilchen des Teppichs auf und
nieder tanzten. Der März war gekommen, und draußen meldete sich der
Frühling an. Zephyrin tat einen Schritt in den Sonnenstreifen. Sein
kleines rundes, blatternnarbiges Gesicht zeigte den goldenen
Widerschein reifen Getreides. Die geputzten Knöpfe seines
Waffenrockes funkelten, und seine rote Hose leuchtete wie ein Feld
voller Klatschmohn. Jeanne wandte sich ihm zu, doch ihre Augen
wurden von neuem unsicher und wanderten von einem Winkel zum
andern.
»Was willst du, mein Kind?« fragte Helene. »Wir sind ja alle da!
Rosalie, kommen Sie doch näher… das Fräulein will Sie sehen.«
So trat auch Rosalie in die Sonne. Sie trug eine Haube, deren
auf die Schulter zurückgeworfene Bänder gleich
Schmetterlingsflügeln flatterten. Goldstaub flimmerte auf ihrem
schwarzen strähnigen Haar und verschönte ihr gutmütiges Gesicht mit
der platten Nase und den wulstigen Lippen. So standen der Soldat
und die Köchin Arm in Arm im Sonnenlichte, und Jeanne schaute zu
ihnen hin.
»Nun, mein Liebling,« begann Helene wieder. »Willst du sie denn
nicht begrüßen … «
Jeanne schaute sie an, und ihr Kopf zitterte leicht wie der
einer sehr alten Frau. Und vor ihr standen sie wie Mann und Weib,
die sich die Hände geben wollen, um nach Hause zu gehen. Die linde
Luft des Frühlings wärmte beider Herzen,
und im Bestreben, ihr geliebtes Fräulein aufzuheitern, fanden sie
endlich ihr Lachen wieder, zärtlich und ein wenig verlegen.
Gesundheit strahlte von ihren breiten runden Rücken, und wären sie
allein gewesen, hätte Zephyrin seine Rosalie sicher derbe gepackt
und hätte dafür eine kräftige Ohrfeige gekriegt.
»Nun, Liebling? Hast du den beiden denn gar nichts zu
sagen?«
Jeanne starrte sie an und brachte kein Wort heraus. Plötzlich
schluchzte sie laut auf, und Zephyrin und Rosalie mußten eilig das
Zimmer verlassen.
»Ich bitte sehr um Verzeihung… Das gnädige Fräulein und die
ganze Gesellschaft… « sagte der kleine Soldat verdutzt und
ging.
Von jetzt an versank die Kranke in ein dumpfes Brüten, aus dem
sie nichts mehr aufstören konnte. Sie hatte sich von allem
losgesagt, selbst von ihrer Mutter. Wenn Helene sich über das Bett
neigte, einen Blick ihres Kindes zu erhaschen, starrte Jeanne
ausdruckslos vor sich hin, als wäre nur der Schatten der Vorhänge
über ihre Augen geglitten. Sie schwieg und verharrte in der
schwarzen Verzweiflung einer Irren, die das Ende nahen fühlt.
Manchmal blieb sie mit halbgeschlossenen Lidern regungslos liegen,
und der schärfste Beobachter hätte nicht erraten können, welche
Gedanken sich hinter der schweißnassen Stirn verbargen. Für sie war
nichts mehr vorhanden als ihre große Lieblingspuppe, die an ihrer
Seite lag. Man hatte sie ihr eines Nachts
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