Ein bretonisches Erbe
Sonne strebte nun deutlich dem Horizont zu und tauchte den Himmel darüber in ein warmes Orangerot, welches sich im Blau des Meeres brach und so den Übergang zwischen Himmel und Erde in einem feinen violetten Dunstschleier verschwimmen ließ.
Da sollst du hin, dachte Yuna und war sich sicher, dass ihr Großvater genau wie sie empfunden hatten und auch wirklich genau dorthin wollte… Zu dem Tor, welches den Sterblichen den Zutritt zum jenseitigen Paradies öffnete. Deswegen hieß diese Bucht ja auch La Baie des Trèspassés , die Bucht des Übergangs… der Hinübergehenden… Und genau jetzt, in diesen Minuten, kurz bevor die Sonne hinter dem Horizont versank, war der richtige Zeitpunkt, um von dieser Welt in eine andere zu wechseln.
Ihr Auftrag war klar, aber nun an der Schwelle seiner Erfüllung standen simple Hindernisse im Weg und erneut die profanen Fragen, die ihr schon während der Fahrt Rätsel aufgegeben hatten… Und immer wieder streifte Yunas Blick die ausgelassenen und fröhlichen Menschen am Strand, während sie darüber nachgrübelte, wie sie es anstellen sollte und vor allem, wie es in Würde geschehen konnte.
Sie fühlte sich plötzlich unvorbereitet. Ihre Aktion kam ihr überhastet vor. Es fehlten Blumen, ein Floß, Kerzen oder Fackeln… alles Dinge, die zu einem keltischen Begräbnis gehörten. An nichts davon hatte sie gedacht, nichts weiter hatte sie mitgebracht, als die nackte Urne…
Sollte sie die Asche daraus einfach ins Meer schütten?
Sie fühlte Beklemmung, denn das fand sie doch irgendwie makaber, besonders angesichts der vielen Touristen und Sportler. Zum ersten Mal kamen ihr nach dem verwegenen Motorradritt, der eine mitreißende Eigendynamik entfaltet und zeitweise ihren Verstand neutralisiert hatte, nun Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Sie fühlte sich allein und das tat in diesem Augenblick besonders weh.
Deutlicher als je zuvor wurde ihr außerdem bewusst, dass sich in diesem schlichten Gefäß, die Überreste eines Menschen befanden. Eines von ihr über alles geliebten Menschen, der zudem auch für andere Bedeutung erlang hatte. Dessen Wirken in einem über 90jährigen Leben Spuren in der Welt hinterlassen hatte. Sollte ein solcher Mensch wirklich nun für immer ausgelöscht sein? Für die Ewigkeit im Meer verschwunden? Ohne Grabstein, Beerdigungsfeier, ohne trauernde Freunde beim letzten Geleit?
Sie war sich auf einmal so unsicher. Konnte ihr Großvater das wirklich gemeint haben? Hatte nicht doch vielleicht Juliette recht, die auf einer großen Trauerfeier mit all den Verehrern seiner Kunst bestanden hatte? Yunas Mutter, die ja nicht leichtfertig in solchen Dingen war, sah es schließlich ganz genauso.
Nein! Yuna riss sich zusammen. Das war nicht ihr Großvater wie sie ihn kannte, der da in den letzten Jahren von Vernissage zu Vernissage gehetzt war, das war ein von Juliette Getriebener, der nur ihr zu Liebe gute Miene zum bösen Spiel machte. Er hatte sein Leben in Bescheidenheit gelebt und es ganz seiner Kunst gewidmet. Ruhm und Anerkennung waren ihm nie wichtig gewesen. Das größte Glück war es für ihn, wenn er selber mit einem Werk zufrieden sein konnte, wenn er es in der Gewissheit beendete, dass das, was er geschaffen hatte, gut war. Darum war er auch stets ganz davon erfüllt. Er lebte nicht für den Ruhm oder den Nachruhm, sondern um etwas zu bewirken. Um Spuren zu hinterlassen, die für andere Menschen neue Wege eröffneten. Neue Wege der Wahrnehmung, des Denkens, des Lebens.
„Wer in den Gedanken seiner Mitmenschen bleibt, der ist niemals tot“, hatte er einmal zu Yuna gesagt, „und schon gar nicht vergangen. Egal ob sein Körper in einem Grab zerfällt oder als Asche auf den Wellen des Meeres davon treibt.“
Sie stellte den Rucksack zwischen ihre angewinkelten Beine und fühlte die Urne an ihren Waden. Wie gelähmt starrte sie auf den Horizont, an dem die Sonne stetig tiefer sank. Es schien der Beginn der Ebbe zu sein, denn die Surfer begannen einzupacken, die Mütter riefen die Kinder zusammen und der Sandstreifen zwischen Strand und Meer verbreiterte sich zusehends. Die Wellen wurden niedriger und das Wasser rollte sanfter am Ufer aus.
Sie dachte an das alte, viel kleinere Hotel. Dort hatte sie mit ihrem Großvater auf der Terrasse gesessen, vor fünfzehn Jahren, er auch damals schon betagt, aber von unglaublicher Eloquenz, Esprit und Lebensweisheit. Er erzählte von bretonischen Mythen, lokalen Varianten der Artussage, die besagten,
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