Ein bretonisches Erbe
„…alles… es ist alles ganz, ganz furchtbar traurig…“ und ohne es wirklich zu wollen, fügte sie nun wieder auf Französisch hinzu: „…ich bin hier um meinen Großvater zu beerdigen.“
„Das ist wirklich traurig. Mein Beileid. Es scheint, dass Sie ihn sehr geliebt haben.“
Sie nickte stumm und empfand die Berührung durch seine Hand als sehr wohltuend.
„Darf ich wissen wo die Beerdigung stattfinden wird?“
Der Tränenstrom schwoll an.
„Hier…“, sagte sie mit erstickender Stimme. „In diesem Rucksack ist seine Urne.“
Weder vom Druck seiner Hand, noch aufgrund einer anderen physiologischen Reaktion konnte Yuna auf irgendeine Wirkung des Gesagten auf den Fremden schließen. Sie hob darum den Blick, um ihm, von Neugier getrieben, ins Gesicht zu sehen, aber seine tiefblauen Augen irritierte sie erneut so sehr, dass sie ihn sofort wieder abirren ließ.
Doch wie unter einem inneren Zwang wanderte er kurz darauf erneut zurück, erfasste die jungen, aber ausgeprägten Gesichtszüge ihres Gegenübers und versenkte sich schließlich in den dunklen Wassern auf dem Grund seiner Augen.
Nahezu gleichzeitig erfasste die beiden Menschen erst Erstaunen und dann die Erkenntnis, dass sie einander keine Fremden waren.
„Julien?“
„Yuna?!“
Ihre Stimmen brachen und sprachlos starrten sie sich an. Mit stummen Blicken schienen sie jede nur mögliche Information aus dem Gesicht des jeweils anderen zu saugen, so als könnte auch ohne Worte alles erklärt und verstanden werden, was sie beide in diesem Moment so völlig aus der Bahn warf. Weil es so unerwartet, so surreal war, dass sie sich hier, an diesem Ort und zu dieser Stunde, wiedertrafen. Fünfzehn Jahre nach ihrem ersten Kuss… als zwei erwachsene Menschen.
Schließlich hielt Yuna es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus. Sie löste ihre Hand abrupt aus dem Griff ihres Gegenübers und sprang auf. Mit dem Rücken zu Julien trat sie näher an die Brüstung. Widerstreitende Gefühle zerrissen sie fast.
Am liebsten wäre sie fortgelaufen, hinunter zum Strand, einfach hinein in die Wellen… oder nein… viel lieber noch wäre sie Julien um den Hals gefallen, hätte ihn geherzt, gestreichelt, geküsst… wie man es mit guten Freunden tut… mit sehr guten Freunden… nein, eigentlich nur mit einem, dem einzigen, dem besten Freund, dem, den man… liebt… geliebt hat…
Doch besser ans Wasser, dachte sie und wollte schon loslaufen, als ihr einfiel, dass sie Großvaters Urne ja nicht unbeaufsichtigt auf einer Hotelterrasse stehen lassen konnte.
Sie fühlte sich hilflos und ihre Hand gehorchte ihr kaum, als sie versuchte, sich mit einer linkischen Geste die Trauer aus dem Gesicht zu wischen, um Platz für das Glücksempfinden zu machen, das sie durchzitterte und so verwirrte.
Um sich zu erden, klammerte sie sich mit beiden Händen an die Brüstung, so dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie fühlte sich überfordert... von allem, was mit ihr geschah und sie so befremdlich tief verstörte. Auch von der grandiosen Natur, die gerade jetzt alle Register zog und sie mit einer atemberaubenden Inszenierung überwältigte.
Der Nebelschleier hatte sich gesenkt und mit dem Meer vereinigt und die Sonne stand nun in seltener Glut knapp über dem Horizont, der in sämtlichen Rottönen explodierte, so als hätte sie dahinter einen Weltenbrand entfacht.
Das Wasser war weiter zurückgegangen. Yuna spürte, dass Julien neben sie trat. Er berührte sie nicht, sondern legte nur ruhig seine Hände neben die ihren auf die Brüstung. Sie waren markant, braun gebrannt und wirkten entspannt, ganz im Gegensatz zu den ihren.
„Es ist Grand-père Pierre, nicht wahr, den du in deinem Rucksack trägst?“
Sie nickte kaum merklich.
„So ist er doch noch heimgekehrt. Wir haben ihn vermisst. Es ist lange her, dass er so plötzlich das Dorf verlassen hat. Acht oder Neun Jahre…?
„Fünfzehn.“
„So lange?“
„Zu lange!“
Die einsilbige Kommunikation verstummte. Sie schwiegen beide und ihre Augen verfolgten das feurige Schauspiel über dem Meer, während sie auf Gedankenreisen gingen, in eine Zeit, in der sie beide einander einmal ganz nahe waren.
„Auch du wurdest vermisst…“ sagte Julien leise, als die Sonne die Horizontlinie berührte und wenige Sekunden später in das Wasser eintauchte. Nicht wirklich, aber es sah so aus und es war ein schönes Bild, das von keinem der beiden naturwissenschaftlich hinterfragt wurde.
„Wirklich? Von wem?“, wisperte Yuna
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