Ein bretonisches Erbe
jedes Jahr seine Ferien verbrachte und fast schon zu Hause war.
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, damals wollte ich mich nicht mit deinem Bruder anlegen und später habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Und mit wem hätte ich denn da auch knutschen sollen, wo doch meine kindliche Kaiserin verschwunden war.“
Er warf ihr einen liebevollen Blick zu.
„Außerdem habe ich mich immer mit der Dorfjugend in der Bar Jeux getroffen, dort war es viel gemütlicher, als in so einer kalten, feuchten Höhle. Da gab es Kicker, Spielautomaten und eine Jukebox, halt alles was man damals zum Spaßhaben brauchte.“
Yuna trat zu einem der Fenster des rundum verglasten Raumes und sah in den Hof hinunter, wo Emory die Hündin des Hauses mit seinen unsittlichen Annäherungen nervte, und überlegte, wie sie Julien von ihrer seltsamen Entdeckung erzählen konnte, ohne ihr zu viel Gewicht zu geben. Sie wollte auf keinen Fall, dass es peinlich wirkte. Schließlich aber stand sie so unter Spannung, dass es eher unvermittelt und etwas holperig aus ihr herausbrach:
„Ich… ich… habe etwas entdeckt… in der Grotte…“
Julien sah sie erstaunt an und scherzte dann:
„Das Seeräuberskelett oder gar eine Schatzkiste?“
„Sei nicht albern“, hatte sie aber gerade gar keinen Sinn für seinen Humor. „Es ist etwas Ernstes.“
„Oho“, machte Julien weiter Blödsinn und ging einfach nicht ernsthaft auf sie ein. „ Dann kann es ja nur Ankou , der Sensenmann persönlich gewesen sein!“
Sie sah ihn wütend an. Ankou war der bretonische Ausdruck für den Tod und niemand, wirklich niemand, machte in dieser Gegend Scherze damit, denn seine bloße Erwähnung sollte schreckliches Unglück bringen.
Da Juliens Großmutter nun zum Essen rief, unterdrückte Yuna jedoch ihren Ärger und ließ die Bemerkung unbeantwortet im Raum stehen. Stattdessen schickte sie ihrer Mutter schnell eine SMS aufs Handy, um sie zu informieren, dass sie bei Juliens Großeltern war und mittags nicht zum Essen nach Hause kommen würde. Sicher bekam ihre Mutter beim Lesen dieser Botschaft wieder ihren Schwiegermutter Glücksblick. Na, der sei ihr gegönnt, dachte Yuna und stieg mit Julien die Wendeltreppe des Turms hinunter ins Erdgeschoss, wo im Esszimmer gespeist wurde.
Der Raum verfügte über eine lange Tafel vor einem gewaltigen Kamin, in dem ein heimeliges Feuer knisterte und war mit schweren, dunklen bretonischen Eichenmöbeln ausgestattet. Einem gewaltigen Buffetschrank, in dessen Scheiben handgeklöppelte Gardinen aus der Gegend von Quimper hingen, Tellerregalen, vollgestopft mit kostbarem alten Steingutgeschirr, und einem mächtigen Sideboard, auf dem zahllose, mehrarmige Leuchter neben antiken Schalen und Vasen standen, in denen Obst und Hortensienblüten liebevoll arrangiert waren.
Rustikal aber auch sehr gediegen und Yuna, hatte wieder einmal das Gefühl, nicht gerade bei armen Leuten zu Gast zu sein. Das Haus ihres Großvaters jedenfalls war dagegen sehr viel schlichter und sie konnte gut nachvollziehen, dass ihr als kleines Mädchen, das Gutshaus wie ein Schloss erschienen war.
Tatsächlich gab es den großen Krebs, gekocht und geviertelt als Vorspeise. Dann folgte ein traditioneller Fischauflauf und zum Dessert die beliebte Crème brûlée und Ziegenkäse aus eigener Herstellung. Dazu wurden Wein, Wasser und Cidre gereicht.
Als der Café serviert wurde und Juliens Großvater seine Pfeife anzündete, nutzte Yuna die Gelegenheit und brachte die Sprache auf die Inschrift in der Höhle. Denn wenn jemand etwas über die Bedeutung des Datums wusste, dann am ehesten die älteren Einwohner des Ortes, die 1943 bereits gelebt hatten.
Sie war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es eigentlich nur Ihr Großvater gewesen sein konnte, der die Inschrift in den Felsen gemeißelt hatte, denn schließlich war er der einziger Bildhauer der Gegend. So fragte sie also völlig arglos:
„Ich habe in einer Grotte am Strand vorhin eine Inschrift mit einem für mich sehr interessanten Datum entdeckt und mich darum gefragt, woran sie denn wohl erinnern soll?“
Julien sah sie ziemlich perplex an, aber das war nichts gegen die Reaktion seiner Großeltern.
Seine Großmutter, die ihrem Mann gerade Café nachgoss, bekam einen beängstigend stieren Blick, begann ganz plötzlich zu zittern und schüttete die braune Brühe komplett neben die Tasse auf das blütenweiße Tischtuch. Sein Großvater aber hatte sich offenbar am Rauch seiner Pfeife verschluckt und
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