Ein bretonisches Erbe
Babys klang.
Sie schüttelte den Kopf, um die Stimmen zu vertreiben, aber sie wurde sie nicht los und auch als sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt, riefen sie in gleicher Lautstärke und unvermindert intensiv weiter. Ob sich so ein Tinnitus anfühlte, dachte sie beunruhigt.
Verwirrt stieg sie aus dem Bett, um zu prüfen, ob das Fenster vielleicht noch offen stand, aber als sie es inspizierte, war es fest geschlossen. Also konnten Rufe, zumindest aber das Weinen eines Babys, gar nicht hindurch dringen.
Sie grübelte noch über dieses beängstigende Phänomen in ihrem Kopf nach, als sie zwischen den Klippen weißliche Lichter herum huschen sah.
Nicht schon wieder!, dachte sie abwehrend und sträubte sich dagegen solcher Irrationalität in ihrem Denken und Fühlen Raum zu geben! Bitte, heute keine Gespenster mehr!
Aber sie konnte den Blick einfach nicht von den Felsen abwenden und plötzlich sah sie dort eine Frau in einem weißen Kleid. Sie kniete direkt unterhalb des Hauses an einem der Tümpel. Was machte sie denn da mitten in der Nacht? Yuna war so neugierig, dass sie ohne weiteres Nachdenken die Balkontür aufriss und an das Geländer trat.
Das seltsame Klagen und Wimmern verstärkte sich und nun sah sie auch, was die Frau tat. Sie wusch Wäsche. Mitten in der Nacht wusch sie Wäsche in einem der kleinen Wasserbecken, welche die Flut zwischen den Felsen zurückgelassen hatte.
Schon allein diese Tatsache war so merkwürdig und beunruhigend, dass ihr Herz zu rasen begann. Doch dann drohte es ihr vor Entsetzen stehen zu bleiben. Denn je mehr Wäsche die Frau wusch, umso dunkler färbte sich das Wasser. Und als Yunas Blick auf ihre emsigen Hände fiel, sah sie im kalten Licht des Mondes, dass es… Blut war.
Sie schlug in Panik die Balkontür zu, verriegelte sie und zog den Vorhang vor, dann taumelte sie immer noch unter Schock in ihr Bett. Zitternd kroch sie ganz unter die Decke und nahm sich vor, wenn sie in Zukunft eine Abendlektüre brauchte, auf keinen Fall mehr zu den Islandfischern zu greifen. Und am besten auch vorher keine Cocktails mehr in der Bar Jeux zu trinken. Beides zusammen schien ihr zart besaitetes Nervenkostüm wohl etwas zu sehr zu strapazieren. Mehr jedenfalls, als es für einen gesunden deutschen „Schönheitsschlaf“ gut war.
Wie anders war es zu erklären, dass sie solche Halluzinationen hatte? Denn nur darum konnte es sich bei dieser Erscheinung handeln. Aber dann erinnerte sie sich, dass es in der Bretagne Legenden gab, nach denen die Erscheinung einer Frau, die am Strand blutige Wäsche wusch, ein böses Omen war und einen nahen Tod ankündigte. Und da sie sich ohnehin in einem seelischen Ausnahmezustand befand, machte ihr diese Vorstellung nun wirklich Angst.
Mit bebenden Fingern griff sie nach dem warmen Medaillon an ihrem Hals und dachte an die angenehm sanfte Frauenstimme, die sie vernommen hatte, als sie es das erste Mal umlegte. Konnte sie nicht einem Schutzengel gehört haben? Yuna schien, dass sie den dringend brauchen konnte.
Nach einem ausgiebigen Frühstück, für das diesmal Yuna ins Dorf gelaufen war, um Croissants zu holen, packte Monika Lindberg ihren Koffer ins Auto und verabschiedete sich herzlich von ihrer Tochter.
Sie war sehr stolz auf ihre „Kleine“, die ihr in diesen wenigen Tagen so viel erwachsener geworden zu sein schien. Vielleicht hatte sich aber auch nur ihre eigene Einstellung zu Yuna gewandelt, weil sie die ganze Aktion mit Großvaters Asche doch sehr beeindruckt hatte, ja, weil die Entschlossenheit, mit der Yuna vorgegangen war, ihr wirklich Respekt abnötigte.
Sie hatte immer daran gezweifelt, dass Yuna mit ihrer so sensiblen Künstlerseele fähig sein würde, auch mal eine Sache geplant und systematisch anzugehen und durchzuziehen. Zu oft hatte sie vorzeitig resigniert, aufgegeben, wieder angefangen und wieder aufgegeben.
Das war beim Studium so gewesen und bei den Männern nicht anders. Und Julien schien Monika da ein echter Glücksfall zu sein. Jedenfalls fiel es ihr nun leicht abzureisen, denn sie war sich sicher, dass Yuna hier in diesem schönen Haus und in dieser einmaligen Landschaft auf dem eingeschlagenen Weg noch ein ganzes Stück weiterkommen konnte.
„Ich freue mich auf ein Wiedersehen in wenigen Wochen“, sagte sie zum Abschied. „Ich bin gespannt, was du im Haus alles noch entdecken wirst und wie du es für dich in Besitzt nimmst. Ich glaube, dein Großvater wäre sehr glücklich, wenn er dich jetzt sehen
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