Ein bretonisches Erbe
ins Haus zurück und suchte sogleich in Großvaters Bibliothek. Und tatsächlich wurde sie fündig, Fahrzeugpapiere und Schlüssel lagen ordentlich in einer Schublade im Schreibtisch. Sie hatte nicht erwartete, dass überhaupt noch ein Auto in der Garage stehen würde, und war nun richtig aufgeregt. Wie herrlich wäre es, wenn sie wieder mobil wäre!
Sie nahm voller Vorfreude das Schlüsselbund heraus und wollte die Schublade gerade wieder schließen, als ihr Blick auf eine Skizze fiel, die darunter lag. Sie hielt inne und zog sie dann neugierig heraus. Vor ihr auf dem Blatt stand das Geburtsdatum ihres Vaters. Sie stieß heftig den Atem aus und zwang sich dann mehrere Male ruhig durch zu atmen. Was sie in der Hand hielt, war der Entwurf zu der Inschrift in der Höhle.
Also hatte tatsächlich ihr Großvater diese dort in den Fels eingemeißelt. Da er die Skizze signiert und mit Datum versehen hatte, wusste Yuna nun auch wann, nämlich erst vor etwa fünfzehn Jahren, kurz bevor er sein Haus in der Bretagne aufgegeben und sich zum zweiten Mal verheiratet hatte.
Yuna hatte nun nicht mehr den geringsten Zweifel, dass an diesem Datum etwas geschehen war, was ihr Großvater unbedingt im Gedächtnis der Lebenden wachhalten wollte, aber ihr fehlte leider immer noch der entscheidende Hinweis darauf, was es wohl sein könnte. Hatte er dieses Geheimnis gemeint, als er in seinem letzten Brief schrieb, dass dieser Ort untrennbar mit ihrer Familie verbunden wäre?
Der Geländewagen sträubte sich ein bisschen, aber dann gab er seinen Widerstand gegen Yuna auf und entschloss sich, seine Funktionen wieder aufzunehmen.
Mit dem Rest Diesel, der noch im Tank war, fuhr Yuna zur Tankstelle an der Schnellstraße und jagte den Wagen dort erst einmal durch die Waschstraße, bevor sie dem Motor eine Ölung, die hoffentlich nicht seine Letzte war, zukommen ließ und bis zum Anschlag volltankte. Der nette Tankwart prüfte auch noch den Reifendruck und schenkte ihr ein Duftbäumchen für den Innenraum, das den leichten Modergeruch wirkungsvoll übertönte. Perfekt.
Yuna merkte, wie sich ihre Laune zunehmend besserte, und als sie auf der Straße durch die schmale Schlucht zurück fuhr und über dem Meer einen Regenbogen in allen Spektralfarben leuchten sah, da meinte sie den Goldtopf von seinem Ende schon in den Händen zu halten. Sie fuhr auf den Hof von An Triskell und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses wunderschöne Anwesen tatsächlich ihr gehörte.
Da es im Atelier recht staubig und kalt war, baute Yuna Staffelei und Leinwand zunächst einmal im lichtdurchfluteten Wintergarten auf. Wunderbar! Was für ein Blick über die Bucht , welch ein inspirierender Ort!
Sie griff zum Pinsel, drückte etwas Farbe aus einer Tube auf die Palette und malte eine waagerechte Linie quer über die Leinwand. Sie trat einen Schritt zurück. So, das war schon mal der Horizont, er teilte das Bild in Himmel und Meer, gerade so, wie es vor ihren Augen lag. Der Anfang war gemacht.
Sie war also, trotz des Streites mit Julien, in sich gefestigt und voller Optimismus, als sie am Sonntag bei schönstem Sonnenschein nach St. Laurent fuhr, wo einer der größten Pardons der Cote d´armor stattfinden sollte. Alle Menschen aus der Gegend würden dort zusammenströmen und ganz sicher würde sie auch Julien antreffen.
Wenn der Berg nicht zum Propheten kam, dann musste eben der Prophet zum Berg gehen, dachte Yuna, und obwohl sie erst gezögert hatte, machte es ihr nun nichts mehr aus, den ersten Schritt zu tun.
Sie wollte ihr neues Glück festhalten und da Julien darin eine nicht unwesentliche Rolle spielte, natürlich auch ihn. Also war es völlig egal, wer auf wen zuging, Hauptsache es bewegte sich etwas und dieser unerträgliche Zustand, in dem sie sich zurzeit befanden, nahm ein Ende.
Sie würde sich jedenfalls nicht von falschem Stolz davon abhalten lassen, mit ihm zu reden und bei diesem Fest würde sich gewiss eine Gelegenheit dazu ergeben.
Der Pardon fand traditionell zum Gedenken an die im Meer getöteten oder verschollenen Fischer statt und hatte seinen Ursprung in der Zeit der Islandfischerei. In einer aufwändigen Prozession wurde eine Marienstatue ins Meer getragen, um den Segen der Jungfrau für die Seefahrer zu erbitten.
Yuna erinnerte sich, dass ihre Familie auch schon früher zu diesem Fest gefahren waren, das für sie damals eher einem Rummel geglichen hatte. Nun aber, vor dem Hintergrund ihrer Lektüre, bekam das Ereignis eine
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