Ein Buch für Hanna
hatten nur die Wochentage eine gewisse Bedeutung, weil der Sonntag arbeitsfrei war.
Eine Ausnahme bildete der 31. Dezember. Schon Tage vorher wurde darüber gesprochen, wie man diesen besonderen Tag begehen würde. Am Silvesterabend saßen sie auf der untersten Pritsche, Hanna, Rachel, Bella und Rosa, und lutschten Zitronenbonbons, die in Rosas Paket gewesen waren. Sie unterhielten sich darüber, ob das neue Jahr, das Jahr 1945, endlich die ersehnte Befreiung bringen würde.
»Alle sagen, dass das Ende der Nazis gekommen ist«, sagte Hanna und versuchte, so viel Zuversicht wie möglich in ihre Stimme zu legen.
»Nächstes Jahr in Jerusalem«, sagte Bella sehnsüchtig.
Und Rachel sagte: »Ach, hör doch auf! Seit bald zweitausend Jahren sagen das die Juden. Seit bald zweitausend Jahren ist das für die meisten nur ein Wunschtraum geblieben, eine Illusion.«
Hanna lehnte sich zurück. Los, drängte Mira in ihrem Kopf. Los, sag’s schon! Und Hanna sagte es: »Seit bald zweitausend Jahren, das stimmt. Aber wir schaffen es. Aufgeben gilt nicht.« Da packten sie sich an den Händen, wie kleine Mädchen, die ein feierliches Versprechen abgeben, und sagten leise: »Nächstes Jahr in Jerusalem.«
Für den 1. Januar hatte Frau Hvid, die gerade wieder eine gute Phase erlebte, eine Feier organisiert, zu der sie Hanna und ihre Freundinnen eingeladen hatte. Sie besaß noch einen kleinen Vorrat an Tee aus ihrem letzten Paket und Sarah hatte aus zerkrümeltem trockenem Brot und aufgesparter Marmelade eine Art Kuchen gebacken. Hanna, Rachel, Bella und Rosa spendierten Zwieback und eine Dose Leberwurst. Sarah und ihrer Mutter war es gelungen, die Hälfte des Tischs in ihrem Saal zu erobern. Da saßen sie nun auf den Bänken, auf der einen Seite Frau und Herr Hvid mit Samuel und Sarah, und ihnen gegenüber Hanna, Rachel, Bella und Rosa. Sie aßen zuerst den Zwieback und die Wurst, dann den Kuchen und dazu tranken sie dünnen Tee. Was für ein Fest! Hanna war froh, dass sie die Leberwurst noch nicht gegen etwas anderes eingetauscht hatte. Die Dose war zwar klein, unter acht Leuten aufgeteilt, bekam jeder nur ein winziges Bröckchen; aber der Geschmack war unvergleichlich gut, weckte Erinnerungen und Sehnsüchte.
Hanna hatte Herrn Hvid natürlich schon öfter gesehen, aber er war ihr immer ausgewichen. Jetzt sagte er, er habe sich damals geirrt, sie hätten Hanna nie einladen dürfen. Vor allem hätte er sie nach der Warnung der BBC vor einer Aktion gegen die dänischen Juden sofort nach Hause schicken müssen, er sei schuld daran, dass sie hier gelandet war. Es tue ihm wirklich sehr leid.
Hanna lächelte, leckte sich mit der Zunge das letzte bisschen Fett von den Lippen und sagte, wie Mira es getan hätte: »Ach, Herr Hvid, Sie waren nicht schuld, Sie haben uns doch nicht hierhergebracht. Das Schicksal hat uns einen Streich gespielt, einen dummen, hinterhältigen Streich. Wir haben alle keine Schuld, Schuld haben nur Hitler und seine Kohorten.«
Herr Hvid streckte die Hand aus, und als Hanna sie ergriff, fiel ihr auf, wie mager seine Arme waren, wie dünn seine Handgelenke. Sie sah auch Samuels dankbares Lächeln und lächelte zurück. Er wirkte älter als früher, ernster, verhaltener. Aber er war noch immer schön, auch wenn er ziemlich mager geworden war und seine Augen tief in den Höhlen lagen.
»Es gibt nun mal solche dummen Zufälle«, sagte Rachel und erzählte, wie sie den Deutschen in die Hände gefallen waren, als sie in ihrem Zentrum in Nyborg Rosch Haschana gefeiert hatten. »Wenn Hanna nicht bei Ihnen gewesen wäre, wäre sie bei uns gewesen und ebenfalls hier gelandet.«
»Das stimmt«, sagte Hanna. »Sie brauchen sich wirklich keine Vorwürfe zu machen, Herr Hvid.«
»Es ist auch nur ein dummer Zufall, ob man einem Transport zugeteilt wird«, sagte Samuel. »Und es ist ein dummer Zufall, ob man krank wird.« Er schaute Hanna an. »Es tut mir sehr leid, was mit eurer Freundin passiert ist.«
Hanna senkte die Augen und sagte schnell, um das Thema zu wechseln: »Alle glauben fest daran, dass der Krieg bald vorbei ist.«
Nun sprachen sie darüber, was sie nach der Befreiung tun wollten. Hanna hörte erstaunt zu, als Herr Hvid von seiner Getreidemühle anfing, die hoffentlich nicht beschädigt worden sei. »Nach diesem Krieg werden Mühlen besonders wichtig sein«, sagte er. »Die Menschen werden Brot brauchen, Brot, Brot und noch mal Brot.«
Seltsam, dachte Hanna, er will weiterleben, als sei nichts
Weitere Kostenlose Bücher