Ein Buch für Hanna
geschehen, doch sie behielt diesen Gedanken für sich.
»Das war schön«, sagte Rachel, als sie wieder hinaufgingen zu ihrem eigenen Saal. »Es war fast wie früher.«
Früher, dachte Hanna, früher ist so weit weg. Ich weiß gar nicht, woran ich denken soll, wenn ich »früher« sage.
Im Februar hieß es, über tausend Häftlinge seien vom Roten Kreuz abgeholt worden, um in die Schweiz gebracht zu werden. Lena erzählte es, eine der beiden Däninnen, die die obersten Pritschen bezogen hatten. »Stellt euch vor, in die Schweiz! Ein Land, in dem es keine Lager gibt.«
»So ein Quatsch«, sagte Rachel. »Das ist bestimmt nur dummes Gerede, ein Wunschtraum, den sich irgendein Fantast ausgedacht hat.«
»Ich weiß es von jemandem, der gesehen hat, wie sie in die Waggons gestiegen sind, mit ihrem ganzen Gepäck.«
»Und wer sagt, dass diese Schweiz nicht in Auschwitz liegt?«, fragte Rachel. »Oder in einem Massengrab?«
Lena widersprach: »Sie sollen sogar Proviantpakete bekommen haben.«
Bella seufzte tief. Sie nahm die Brille ab, schloss die Augen und sagte leise und sehnsüchtig: »Vielleicht ist es ja wahr. Irgendwann müssen die da draußen doch merken, was hier los ist. Die Schweiz! Und wenn das Wunder einmal passiert ist, könnte es doch ein zweites Mal passieren.«
»Warum sollten sie Leute in die Schweiz fahren lassen?«, sagte Rachel böse. »Die Transporte gehen immer nur in den Osten. Warum sollten sie ihre Pläne plötzlich geändert haben?«
Lena sagte: »Jemand hat gesagt, sie wollen vielleicht Gefangene gegen Medikamente austauschen. Das könnte doch sein, oder?«
Gefangene gegen Medikamente, das hörte sich nicht unlogisch an, denn an Medikamenten fehlte es schon lange, so wie es an Nahrungsmitteln fehlte.
Hanna mischte sich nicht in das Gespräch ein. Einerseits gab sie Rachel recht, die das Ganze für dummes Gerede hielt, eines der vielen Gerüchte, die in Theresienstadt immer wieder aufkamen, eine Art Latrinenzeitung, weil man hier von allem abgeschnitten war, was in der Welt passierte, andererseits wollte sie die Hoffnung nicht zerstören, die sie in Bellas und Rosas Gesichtern aufleuchten sah. Da war es besser, den Mund zu halten.
Doch als Lena eine Woche später ganz aufgeregt berichtete, jemand habe gesagt, der Zug sei wirklich in der Schweiz angekommen, regte sich auch in ihr so etwas wie Hoffnung.
Eine Zeit lang wartete Hanna insgeheim, ob sich das Wunder wiederholen würde, falls es überhaupt ein Wunder gewesen und der Transport tatsächlich in die Schweiz gegangen war und nicht nach Auschwitz. Doch mit jeder Woche, die verging, ohne dass etwas geschah, sank ihre Hoffnung und eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff sie. Daran änderte sich auch nichts, als die Deutschen erneut eine Verschönerungsaktion anordneten, denn für Anfang April wurde wieder der Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes erwartet. Hanna und ihre Freundinnen bekamen kaum etwas davon mit, für sie bestand die einzige Veränderung, die das Ende des Winters mit sich brachte, darin, dass die schreckliche Kälte nachgelassen hatte.
Aber dann geschah es doch, das Wunder. Eine Woche nach dem Besuch des Roten Kreuzes bekamen alle dänischen Frauen ihres Blocks Zettel mit der Anweisung, sich am folgenden Tag in einer bestimmten Kaserne einzufinden und auf das Rote Kreuz zu warten, auch Hanna, Rachel, Bella und Rosa.
Seltsamerweise brach kein Jubel aus, offenbar wusste niemand so recht, was man von dieser Nachricht halten sollte. Eine Frau von einer benachbarten Pritsche sprach ihre Zweifel laut aus: »Das ist Betrug, sie wollen uns nur einlullen, damit wir stillhalten. Macht euch doch nichts vor, wir werden in den Osten geschickt. Alle, die deportiert worden sind, haben solche Zettel bekommen.«
Hanna lief hinunter zu Sarah, sie hatte das dringende Bedürfnis, mit der Freundin zu sprechen. Aber dazu kam es nicht. Frau Hvid fing sie ab, umarmte sie und rief weinend: »Bald haben wir es überstanden, Hanna, bald wird alles gut.«
Hanna sah Sarah an, die hinter ihrer Mutter stand, und entdeckte im Gesicht der Freundin die eigenen Zweifel. Sarah zog die Augenbrauen hoch, hob die Schultern und ließ sie fallen. Hanna verstand sie auch ohne Worte. Sie löste sich aus Frau Hvids Umarmung und ging langsam wieder hinauf.
An diesem Abend kehrte lange keine Ruhe ein. Auch nachdem das Licht ausgegangen war, hörte Hanna von überall her Geflüster, Seufzer, unterdrücktes Weinen. Sie rollte sich auf ihrem Strohsack
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