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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Dänisch lernen. Wozu eigentlich, ich will doch keine Dolmetscherin werden.«
    »Ein guter Jude sollte die wichtigsten Wörter in allen Sprachen wissen, zum Beispiel das Wort ›Brot‹«, sagte Bella im Ton einer strengen Lehrerin, und alle lachten und riefen durcheinander: »brojd«, »brød«, »püine«, chleb«, »brood«, »bread«, »pain«, »lechem«.
    Schula mischte sich ein. »Ein guter Jude sollte das Wort ›Gott‹ in allen Sprachen kennen.«
    Mira warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Ein guter Jude sollte das Wort ›Gott‹ vielleicht im Herzen tragen, aber nicht auf der Zunge«, sagte sie. »Und statt so vieler Sprachen würde ich lieber lernen, wie ich später im Kibbuz Kühe melken und Käse herstellen kann.«
    »Das willst du?«, fragte Hannelore erstaunt. »Im Kuhstall arbeiten und Käse machen?«
    »Warum nicht?«, sagte Mira. »Irgendetwas mit Tieren wäre mir recht.«
    »Ich würde auch gern im Kuhstall arbeiten«, sagte Bella. »Ich liebe Kühe. Und melken kann ich auch, das habe ich auf dem Hof von meinem Onkel gelernt. Kühe sind sanft und freundlich.« Das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie nahm ihre Brille, die sich plötzlich beschlagen zu haben schien, von der Nase und putzte sie mit dem Rand ihres Unterrocks. Ihre Augen, die ohne Brille deutlich größer aussahen, glänzten feucht.
    »Und ich liebe Pferde«, sagte Rosa sehnsüchtig. »Pferde sind die schönsten Tiere der Welt. Ein Kollege meines Vaters hat ein eigenes Pferd. Früher durfte ich manchmal darauf reiten.«
    »Pferde sind aber nicht halb so nützlich wie Kühe, wenn es darum geht, etwas zu essen zu bekommen«, widersprach Mira.
    Hannelore schwieg, sie konnte weder Bellas Liebe zu Kühen noch Rosas Liebe zu Pferden verstehen. Beide, Kühe und Pferde, waren ihr zu groß, sie fand sie bedrohlich.
    »Los, an die Arbeit«, sagte Schula mürrisch.
    Sie mussten den Zeltplatz sauber halten, aufräumen, die Waschräume und die Toiletten putzen und der Köchin zur Hand gehen, einer großen, grobknochigen Frau mit blonden Haaren, die nur Dänisch sprach, während der Verwalter des Zeltlagers und seine Sekretärin ein paar Worte Deutsch konnten. Hannelore tat alles, was ihr aufgetragen wurde, so wie sie auch in Ahrensdorf ohne Murren alle Aufträge erledigt hatte.
    Sie wehrte sich noch nicht mal gegen das Kartoffelschälen, obwohl ihr diese Arbeit zuwider war. »Erdäpfel« nannte Schula die Kartoffeln, » bulbes « sagte Mira und die Köchin sagte » kartofler «, aber das Schälen war in jeder Sprache gleich eklig. Wenn man die erste Kartoffel in die Hand nahm, fühlte sie sich noch trocken und erdig an, doch sobald die Schalen wie braune Schlangen zu Boden sanken und das feuchte, gelbliche Fleisch der Kartoffel freilegten, blieben die Erdreste an den Fingern hängen und wurden allmählich zu unangenehm klebrigen dicken Wülsten, die sich auch nur schwer abwaschen ließen. Und jedes Mal, wenn sie die Kartoffeln anbrachte, sagte Schula den gleichen Satz, den Hannelore schon nicht mehr hören konnte: »Wenn man einen Sack Erdäpfel schälen will, muss man mit dem ersten anfangen.«
    Aber sie machten auch Spiele, und wenn das Wetter es zuließ, zündeten sie abends ein Lagerfeuer an und sangen und tanzten Hora, den Volkstanz der Pioniere aus Palästina.
    Hannelore beteiligte sich an allem, aber es war, als wäre nur ein Teil von ihr hier, als würde nur ein Teil von ihr lachen und singen, Kartoffeln schälen, aufräumen und putzen und der andere wäre in Leipzig geblieben, in der Wohnung, die ihr früher immer zu eng und zu düster vorgekommen war und die jetzt, in ihrer Erinnerung, größer und heller zu werden schien. Oft schlich sie sich tagsüber ins Zelt und holte heimlich den Umschlag mit den Fotos heraus, betrachtete sie und schob sie dann schnell wieder zurück, als habe sie etwas Unrechtes getan. Und abends, wenn sie unter ihren kratzigen Wolldecken lag, stellte sie sich vor, statt der vielen Atemzüge und der verschiedenen Schlafgeräusche der anderen Mädchen das Rattern einer Nähmaschine zu hören. Erst wenn es ihr gelang, sich das einzureden, wurde sie ruhig genug, um die Augen zu schließen.
    Anfang Juli wurden neue Zelte aufgeschlagen, die dänischen Kinder kamen in ihr Ferienlager. Die Jüngsten waren vielleicht zwölf, die Ältesten siebzehn, achtzehn. Hannelore fühlte sich vom ersten Moment an zu der Gruppe der zwölf-, dreizehnjährigen Mädchen hingezogen, ohne dass sie einen Grund dafür angeben

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