Ein Buch für Hanna
konnte. Vielleicht weil die meisten nicht größer waren als sie, vielleicht auch weil sie so unbekümmert waren und sich so fröhlich unterhielten. Wenn Mira oder Schula sie später fragten, warum sie ständig mit diesen Däninnen zusammenstecke, konnte sie die Frage nicht beantworten, sie zuckte lediglich mit den Schultern und sagte: »Sie lachen so viel.«
Jedenfalls trieb sie sich in jeder freien Minute in der Nähe dieser Mädchen herum, und als eine dänische Betreuerin mit ihnen zu einem nahen See ging, zum Schwimmen, stand sie am Ufer und schaute sehnsüchtig zu. Es war Schula, die ihr abends vor dem Schlafengehen eine Turnhose und ein Turnhemd in die Hand drückte und sagte: »Hier, ich denke, das wird dir passen, damit kannst du auch schwimmen.«
Sie erschrak. Schwimmen? Sie konnte sich höchstens ein paar Meter über Wasser halten, das hatte ihr Helene beigebracht, im Sommer vor ihrer Abreise. Ohne Helene war sie nicht mehr ins Schwimmbad gegangen, denn auch Janka hatte Angst vor dem Wasser. Und später waren die Schwimmbäder sowieso für Juden verboten.
Trotzdem stand sie am nächsten Tag in Turnhose und Turnhemd am Ufer und sah den Mädchen zu, die planschend und spritzend im Wasser herumtobten. Sie hätte so gern mitgespielt, mitgetobt, aber ihre Scheu vor dem Wasser war zu groß. Doch dann spritzten zwei Mädchen sie an und riefen: »Los, komm rein!«, und die Betreuerin nickte ihr aufmunternd zu. Die Wassertropfen glitzerten in der Sonne, die Mädchen lachten, im nahen Gebüsch zwitscherten Vögel, Schmetterlinge flatterten über die Wiese. Hannelore hätte nicht sagen können, woher sie den Mut nahm, doch sie zog kurz entschlossen ihre Sandalen aus und lief über die harten, heißen Kieselsteine ins Wasser. Allerdings achtete sie darauf, in der Nähe des Ufers zu bleiben, da, wo sie noch stehen konnte. Die dänischen Mädchen begrüßten sie mit fröhlichem Spritzen. Und Hannelore tat es ihnen nach, fuhr mit der Handkante flach über das Wasser und spritzte zurück.
Damit begann ein neues Leben für sie. Ganz selbstverständlich fing sie an, die dänischen Mädchen zu begleiten. Von Tag zu Tag wurde sie mutiger, von Tag zu Tag lernte sie besser schwimmen und war bald nicht mehr darauf angewiesen, in Ufernähe zu bleiben. Sie beklagte sich auch nicht, als sie wieder Sonnenbrand bekam und ihre Haut auf Armen, Schultern und Beinen anfing, sich in Fetzen zu lösen.
Das Wetter blieb gut, die Mädchen genossen ihre Ferien. Auch Hannelore. Die Ferien hier waren anders als die Ferien in Leipzig, die sie mit Janka verbracht hatte, sie waren sonnig und voller Lachen. Hannelore war glücklich und sogar die dänische Sprache machte ihr Spaß, jeden Tag lernte sie neue Wörter hinzu. Sie lachte mit den dänischen Mädchen, wenn diese sich über ihre Fehler lustig machten, und manchmal sprach sie ein Wort absichtlich falsch aus, auch wenn sie es eigentlich schon besser wusste. So viel wie in diesen Wochen hatte sie noch nie gelacht, noch nicht einmal mit Janka. Die dänischen Mädchen waren fröhlich und ausgelassen und Hannelore ließ sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken. Manchmal lächelte sie vor sich hin, wenn sie mit Mira und den anderen zusammen war, wenn sie die ihr aufgetragenen Arbeiten erledigte, schnell, damit sie wieder wegkonnte, oder wenn sie am gemeinsamen Unterricht teilnahm. Sie ignorierte Schulas vorwurfsvollen Blick, wenn sie nach jeder Besprechung sofort verschwand, ohne die langweiligen Diskussionen abzuwarten, und Miras freundliche und zuweilen auch spöttische Bemerkungen gingen ihr zum einen Ohr rein und zum anderen raus.
Nie war die Sonne so schön gewesen, der Himmel nie so blau. Auf der Wiese blühten Blumen und das Wasser des Sees war angenehm warm. Die Tage waren lang und flogen trotzdem nur so dahin und Einschlafen war auch kein Problem mehr. Sie hatte das Gefühl, sogar im Schlaf zu lachen. Hannelore war ein Mädchen in den Sommerferien, ihren ersten und einzigen richtigen Ferien. Es war, als lebe sie in einer anderen Welt, es war wie ein Traum.
Doch dann, Mitte August, fuhren die dänischen Kinder nach Hause und Hannelore wachte aus ihrem Traum auf. Sie sank vom Himmel auf die Erde und wurde wieder zu Hannelore, der Tochter von Riwke Salomon aus Leipzig, und plötzlich fiel ihr auf, wie selten sie in den vergangenen Wochen an ihre Mutter gedacht hatte. Schnell setzte sie sich hin, um ihr einen Brief zu schreiben. Sie erzählte, wie gut sie nun schon schwimmen könne und
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