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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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nicht«, sagte Bente, »den Namen habe ich, glaub ich, schon mal gehört. Liest du mir ein Märchen vor?«
    »Ich müsste es übersetzen«, sagte Hanna. »Na gut, ich kann’s ja versuchen. Die Geschichte heißt Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern . Also hör zu: Es war bitterkalt. Der Abend dunkelte und es fing an zu schneien. In der schneidenden Kälte und zunehmenden Dunkelheit ging ein armes, kleines Mädchen barfuß und barhäuptig durch die Straßen. Da ging nun die Kleine auf ihren nackten Füßchen, die rot und blau vor Kälte geworden waren. In ihrer alten Schürze hielt sie eine Menge Schwefelhölzer und einen Bund trug sie in der Hand. Den ganzen Tag über hatte ihr noch niemand was abgekauft, niemand hatte ihr auch nur einen Pfennig geschenkt. Hungernd und frierend und ganz verzagt schleppte sich die arme Kleine weiter.«
    Hanna erzählte, dass das Mädchen sich in einen Winkel zwischen zwei Häusern setzte. Sie fror, wagte aber nicht, nach Hause zu gehen, ihr Vater würde sie schlagen, weil sie nichts verkauft und auch keinen Pfennig Almosen bekommen hatte. Da zündete die Kleine ein Schwefelhölzchen an, um sich die Finger daran zu wärmen.
    Das Hölzchen brannte, und sie hatte das Gefühl, neben einem Ofen zu sitzen, einem eisernen Ofen mit blanken Messingknöpfen und Messingtüren. Das Feuer brannte herrlich und gab so schön warm. Sie wollte gerade die Füße ausstrecken, um sie zu wärmen, da erlosch das Schwefelholz und der Ofen war verschwunden. Sie zündete ein neues an, und wo der Lichtschein die Mauer traf, wurde diese durchsichtig. Die Kleine konnte in eine Stube hineinsehen, auf dem gedeckten Tisch stand eine gebratene Gans. Die Gans sprang von der Platte, auf der sie lag, und watschelte mit Messer und Gabel im Rücken auf die arme, hungrige Kleine zu. Da erlosch das Schwefelhölzchen und es war nichts mehr zu sehen als eine dicke, kalte Mauer. Beim nächsten Hölzchen saß die Kleine unter einem Weihnachtsbaum. Doch wieder erlosch das Flämmchen. Die vielen Christbaumlichter schwebten in die Höhe, hoch und immer höher, und sie sah, sie waren zu den schimmernden Sternen am Himmel geworden. Einer davon fiel herunter und zog einen langen, feurigen Streifen am Himmel hinter sich nach.
    »Nun ist jemand gestorben«, sagte die Kleine, denn ihre alte Großmutter, die allein auf der Welt gut gegen sie gewesen und jetzt gestorben war, hatte gesagt: »Wenn ein Stern fällt, dann geht eine Seele zu Gott.«
    Nun strich die Kleine wieder ein Schwefelhölzchen an der Mauer an, das warf einen hellen Schein ringsum, und in dem hellen Scheine stand die alte Großmutter, klar und deutlich, mild und freundlich lächelnd da.
    Sie wollte das Bild ihrer Großmutter festhalten, deshalb strich sie alle übrigen Schwefelhölzchen auf einmal an. Niemals war die Großmutter so schön und so groß gewesen. Sie hob das kleine Mädchen auf ihre Arme und sie flogen zusammen hoch, hoch empor. Da gab es keine Kälte, keinen Hunger und keine Furcht mehr, denn sie waren vor Gott.
    Aber in der Ecke zwischen den beiden Häusern saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen und einem seligen Lächeln auf den Lippen – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres.
    Hanna klappte das Buch zu und sah hinüber zu Bente, die im Bett auf der anderen Seite des schmalen Gangs lag und weinte. Tränen liefen über die Wange mit dem fledermausförmigen Feuermal.
    »Hat dir das Märchen nicht gefallen?«, fragte Hanna erschrocken.
    »Doch, sehr«, sagte Bente. »Aber es ist so traurig.«
    Hanna schwieg. Natürlich war es ein trauriges Märchen, aber jeder wusste doch, dass das Mädchen sterben würde. »Der Mann, der es geschrieben hat, hieß Hans Christian Andersen und war Däne«, sagte sie. »Seltsam, dass du das Buch nie gelesen hast.«
    »Ich kann nicht lesen«, sagte Bente leise. »Irgendwie habe ich nie lesen und schreiben gelernt.«
    So erfuhr Hanna, dass Bente Analphabetin war.

Siebtes Kapitel
    D er schier endlos erscheinende Winter verging, die Tage wurden wieder länger. Im März kündigte sich der Frühling damit an, dass die Haselnusssträucher und die Weiden anfingen zu blühen. Kurz darauf schlug auch die Linde im Hof aus, im Garten blühten die ersten Schneeglöckchen.
    Hanna saß neben dem Bauern auf dem Bock des Wagens, der mit dampfendem Mist vom Misthaufen und aus den Ställen beladen war. Es war ein strahlender Tag, die Birken entrollten ihre ersten Blätter und leuchteten in einem

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