Ein Buch für Hanna
Trachtenpüppchen, eine kleine Vase und ein paar Unterhaltungsromane. Damit alles noch wohnlicher aussah, schnitten sie aus Zeitschriften ein paar schöne Fotos mit Landschaften und Tieren aus und hängten sie an die Wände. Schula hatte auch Lehrbücher, Hefte und Bleistifte aus Kopenhagen mitgebracht. Nun machte sie sich daran, die Mädchen, so gut es ging, in Hebräisch und jüdischer Geschichte zu unterrichten. Oft sangen sie auch, doch die meiste Zeit verbrachten sie mit Reden und Diskutieren.
Natürlich hörten sie von Hitlers Erfolgen im Westen, von seinem Einmarsch in Frankreich und von jenem Marschall Pétain, der von Vichy aus einen deutschen Marionettenstaat in Nordfrankreich errichtete. Sie wussten auch, dass die deutsche Luftwaffe die britischen Inseln bombardierte, und sie diskutierten darüber, ob die Vereinigten Staaten, die offenbar zögerten, letztendlich doch in den Krieg eintreten würden. Nur über die Bombenangriffe auf deutsche Städte, die seit Mai von der britischen Luftwaffe geflogen wurden, vor allem auf Städte im Ruhrgebiet, sprachen sie selten. Was hätten sie auch sagen können? Einerseits fanden sie es gut, dass es nicht nur Siegesnachrichten von den Nazis gab und dass die Engländer sich für die Bomben rächten, die auf London fielen, andererseits bedrückte sie die Bombardierung der deutschen Städte. Besonders die Mädchen, die aus dem Ruhrgebiet stammten. Sie hatten Angst um ihre Eltern, ihre Geschwister und alle Verwandten und Freunde, die sie zurückgelassen hatten. Sie hatten Angst um alle Juden, die in Deutschland festsaßen. Heute waren die Städte des Ruhrgebiets dran, und welche morgen? Bomben, das war klar, würden unterschiedslos alle treffen, Bomben konnten nicht zwischen Nazis und Juden unterscheiden.
Oft sprachen sie auch über Palästina, malten sich aus, wie es dort sein würde. Ihre Vorstellungen und Träume waren realistischer geworden, die Arbeiten auf dem Feld und im Stall waren ihnen inzwischen vertraut. Sie wussten, dass ihre Tage dort nicht viel anders ablaufen würden als hier, aber sie wären unter sich, sie würden freiwillig arbeiten, eine für die andere und alle gemeinsam zum Aufbau einer Heimstatt für die auf der ganzen Welt verfolgten und unterdrückten Juden. Dieses Wissen würde ihnen Kraft und Ausdauer schenken. Wenn sie sich in immer größere Begeisterung hineinsteigerten, war es Schula, die dämpfend eingriff. »Vorläufig sind wir hier, und solange Dänemark noch von den Deutschen besetzt ist, haben wir keine Chance, hier wegzukommen.«
Dann war mit einem Schlag die Begeisterung verschwunden. Es war, als würde ein riesiger Vogel die Sonne verdecken und einen dunklen Schatten über sie werfen.
Ab und zu, aber viel zu selten, brachte der Postbote eine Karte von Hannas Mutter zum Lindenhof, und das war jedes Mal ein Geschenk, auch wenn immer die gleichen Worte darauf standen. Dann lief Hanna tagelang herum und schrieb in Gedanken lange Briefe an ihre Mutter, sie erzählte ihr vom Zentrum, von Schula und Mira, von Bente, von Rasmus und von der kranken Bäuerin. Doch wenn sie sich schließlich hinsetzte, um ihr zu schreiben, starrte sie auf das weiße Papier und es fielen ihr keine Worte ein. Nur: Mir geht es gut und ich bin gesund, was ich auch von Dir hoffe. Und eine Beschreibung des Wetters: Wir hatten die letzten zwei Wochen Sonne, oder: Es hat hier drei Tage lang geregnet. Hanna wusste nicht, ob diese Briefe überhaupt ankamen.
Im Spätsommer erreichte sie eine Karte, auf der die Mutter schrieb, sie werde bald umziehen, in eine Wohnung mit ihrer Kusine Hetty. Mit Hetty?, überlegte Hanna. Wieso denn das? Früher haben sie sich oft gezankt, warum wollen sie jetzt zusammenziehen?
Als Hanna an ihre Tante dachte, stellte sie erschrocken fest, dass sie nicht mehr wusste, wie sie aussah. Hettys Gesicht war zu einem verschwommenen Fleck über dem blauen Mantel mit dem Pelzkragen geworden, den sie trug, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Der Pelzkragen und die Pelzmütze, unter der ihre ondulierten Locken hervorlugten, standen Hanna so deutlich vor Augen, dass sie die einzelnen Härchen zu erkennen meinte, aber sosehr sie sich auch bemühte, das Gesicht ihrer Tante blieb nur ein blinder Fleck, sah aus wie hinter einer angehauchten Fensterscheibe.
Und dann merkte sie etwas, was sie wirklich entsetzte: Wenn sie an ihre Mutter dachte, tauchte lediglich das lächelnde Gesicht vom Foto vor ihr auf, und dabei wusste sie doch, dass ihre Mutter
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