Ein Buch für Hanna
nur selten gelächelt hatte. Ihre Hände mit den feingliedrigen Fingern sah sie noch deutlich vor sich, Hände, die manchmal wie aufgeschreckte weiße Vögel durch die Luft flatterten, sie hätte den über die Nähmaschine gebeugten Rücken zeichnen können, die Linie des Halses zwischen Kragen und Haaransatz, die Wirbel, die sich unterhalb des Nackens herausdrückten, wenn sie den Kopf tiefer senkte. Aber ihr Gesicht? Ihre Augen? Auf einmal überfiel sie eine schmerzhafte, traurige und hoffnungslose Sehnsucht nach ihrer Mutter, eine Sehnsucht, die ihr Angst machte und die sie deshalb schnell in den hintersten Winkel ihrer Gedanken schob.
Doch ganz verdrängen ließ sich die Erinnerung an ihre Mutter nicht, sie wehte immer mal wieder auf wie ein plötzlicher Windstoß und ließ Hanna verwirrt und hilflos zurück.
Einmal hatte sie einen Traum, einen schrecklichen Traum, den sie lange nicht vergessen konnte. In diesem Traum rannte sie hinter ihrer Mutter her über eine weite Wiese, die ebenso gut am Leipziger Elsterbecken liegen mochte wie auf der Insel Fünen. Aber so schnell sie auch rannte, sie konnte ihre Mutter nicht einholen. Mama, rief sie, Mama, warte! Doch ihre Mutter lief weiter, immer schneller, ihre Füße lösten sich vom Boden, sie schwebte durch die Luft wie ein Vogel, auf eine Nebelwolke zu, die größer und größer wurde und in der sich ihre Gestalt schließlich auflöste. Keuchend blieb Hanna stehen und sah entsetzt, wie die Nebelwolke in Schwaden dicht über den Boden in ihre Richtung kroch, nun berührte der Nebel schon ihre Füße und stieg eiskalt an ihren Beinen nach oben. Sie fing an zu schreien …
Als sie aufwachte, war es nicht ihre Mutter, die auf ihrem Bettrand saß, sondern Bente, und was sie einhüllte, waren keine kalten Nebelschwaden, sondern Bentes warme Arme, und das Gesicht, das sich zu ihr beugte, war nicht das lächelnde Gesicht vom Foto, sondern das mit dem fledermausförmigen Feuermal auf der linken Wange. Und es waren Bentes Hände, die ihre Haare streichelten, und ihre Stimme, die sie tröstete, wie ihre Mutter sie nie getröstet hatte. »Es wird alles wieder gut«, flüsterte Bente, »es wird alles wieder gut.« Und dann merkte Hanna, dass sie weinte und nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Am nächsten Morgen erwähnte Bente mit keinem Wort, was in der Nacht geschehen war. Auch Hanna wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. Doch sie warf Bente immer wieder verstohlene Blicke zu und wusste, dass sie die Zärtlichkeit dieser Frau nie vergessen würde, nie die tiefe Dankbarkeit, die sie empfunden hatte.
Als Bente im Herbst eine schwere Grippe mit hohem Fieber bekam, pflegte Hanna sie liebevoll und geduldig. Sie zuckte auch nicht zurück, wenn sie der Kranken auf den Nachttopf helfen und diesen dann ausleeren musste. Sie kochte für sie Kamillentee und machte ihr Wadenwickel, und abends lag sie lange wach und lauschte voller Angst Bentes flachen, unregelmäßigen Atemzügen und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass man an einer Grippe auch sterben konnte. Doch zum Glück sank das Fieber nach einigen Tagen, und dann dauerte es nicht lange, bis Bente wieder aufstehen und, wenn auch ein bisschen wacklig, herumlaufen konnte.
Während Bentes Krankheit kam Mathilde, die Schwester des Bauern, dreimal am Tag, um ihre Schwägerin zu versorgen. Sie war ebenso flachsblond wie Rasmus und auch ihre Ohren standen ab. Hanna war erleichtert, dass ihr die Sorge für die kranke Bäuerin erspart blieb, denn die wenigen Male, die sie zusammen mit Bente im Zimmer der Kranken gewesen war, hatten sie mit Panik erfüllt. Allein der Geruch nach Siechtum, nach Verfall und menschlichen Ausscheidungen war erstickend und ließ sich auch durch Lüften nicht vertreiben.
Die Frau lag starr unter der Decke, mit verzerrten Zügen, die eine Hälfte ihres Gesichts hing schlaff nach unten, die Lippen waren leicht geöffnet, Spucke floss aus dem herabhängenden Mundwinkel. Nur ihre Augen schienen noch zu leben. Manchmal zuckten die Lippen, aber es waren keine Worte, die herauskamen, sondern nur unartikulierte Laute, die auch Bente nicht verstand. Ein lebender Leichnam, hatte Hanna gedacht und Bente bewundert, die ganz selbstverständlich die Kranke wusch, sie umdrehte und ihr die wunden Stellen an Rücken und Hintern mit Salbe einschmierte, bevor sie ihr frische Windeln anlegte und sie dann fütterte.
Während der ganzen Zeit hörte Bente nicht auf zu sprechen, sie erzählte der Frau, was es Neues
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