Ein Buch für Hanna
bei den Tieren gab, wie das Getreide, die Kartoffeln und die Rüben standen und zu welchem Feld der Bauer und Morten gefahren waren, weil diese oder jene Arbeit zu verrichten war. Und dass Rasmus ein anstelliger, fleißiger Junge sei, sagte sie, der einmal ein guter Bauer werden würde. Als Hanna sie später gefragt hatte, ob die Bäuerin überhaupt verstand, was sie ihr erzählte, hatte Bente nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, das wisse sie nicht, keiner könne das wissen. Aber falls die Frau es verstand, würde sie doch bestimmt erfahren wollen, was auf ihrem Hof so vor sich ging.
Der Herbst, in dem alle Farben noch einmal aufglühten, bevor sie für die Wintermonate erlöschen würden, ging seinem Ende zu. Hanna und Bente hatten Pilze gesammelt und für den Winter getrocknet oder eingelegt, sie hatten Kartoffeln, Karotten und anderes Gemüse in Mieten gelagert, sie hatten Obst eingemacht und Brombeermarmelade gekocht. Sie hatten Weißkraut eingestampft und Zuckerrüben zu Sirup verarbeitet. Sie hatten ein Schwein geschlachtet, Würste gekocht, Fleisch in Gläsern eingemacht und Schinken geräuchert. Und sie hatten ein Fass mit gesalzenen Heringen gefüllt. Der Winter konnte kommen.
Und er kam. Die Tage wurden kurz, aus den Feldern und Wiesen stieg Nebel auf, der sich manchmal den ganzen Tag über nicht auflöste, die nackten Äste und Zweige der Bäume reckten sich wie anklagende Finger in den Himmel. Mit dem kalten Wind drang eine schleichende Traurigkeit in Hannas Herz, das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Es war, als wäre mit der Sonne jede Fröhlichkeit verschwunden.
Auch die Stimmung in der Gruppe änderte sich, alle wirkten bedrückter, nachdenklicher. Die Gruppentreffen wurden auf sonntagnachmittags verlegt, weil niemand bei der Kälte durch die stockdunkle Nacht radeln konnte oder wollte.
Auf dem Lindenhof wurde es einsam. Mira kam nicht mehr so oft und auch Rasmus ließ sich selten sehen. Der Winter veränderte nicht nur die Stimmung, sondern auch den Tagesablauf. Natürlich waren die Tiere zu versorgen, das Essen musste gekocht, das Haus geputzt und in Ordnung gehalten werden, aber häufig genug entstanden Lücken in der Zeit, die löchrig wurde wie ein mottenzerfressener Mantel. Immer wieder gab es Stunden, in denen nichts zu tun war. Diese erzwungene Untätigkeit war es, die Hanna unruhig und unzufrieden machte. Auf einmal wurde ihr klar, wie wichtig die Arbeit war, sie war das Gerüst, das ihrem Alltag Ziel und Form gab und sie stützte und aufrecht erhielt. Dazu kam das fehlende Licht, dieses ewige, erdrückende Grau. Hanna hatte das Gefühl, in ständiger Dunkelheit zu leben, einer Dunkelheit, die durch die Haut in sie einsickerte, sie ausfüllte und jeden Anhauch von Freude erstickte, selbst wenn es tagsüber für einige Stunden heller wurde. Denn auch das Tageslicht war nicht wirklich hell, sondern blass und stumpf, es legte sich wie ein Nebelschleier über die Welt. Nur wenn die Sonne schien, ging es Hanna ein bisschen besser, aber die Sonnentage waren selten.
Oft saß sie am Küchenfenster und starrte hinaus, verlor sich in der unendlichen Dämmerung. Sogar Axlan, dem es manchmal gelang, in die Küche zu schlüpfen, schaffte es dann nicht, sie aus ihrer Traurigkeit zu locken. Immer wieder stieß er sie mit der Schnauze an, gab leise, fiepende Töne von sich und leckte ihre Hände, die sie schlaff im Schoß liegen hatte. Nach einer Weile gab er seine Bemühungen enttäuscht auf und legte sich vor den Herd, wo er später von Morten oder dem Bauern vertrieben wurde.
»Sei doch nicht so traurig«, sagte Bente. »Das liegt nur am Winter. Aber der Winter geht vorbei. Wart’s ab, wenn der Frühling kommt, geht es dir wieder gut.«
Hanna hatte noch nicht einmal die Kraft, Bente zu widersprechen.
Am schlimmsten waren die Abende. Der Bauer besuchte einmal in der Woche die Wirtschaft, an allen anderen Abenden ging er nach dem Essen ins Wohnzimmer, wo auch das Radiogerät stand, und las die Zeitung, bevor er sich schlafen legte. Morten war der Einzige, der in der Winterzeit oft abends wegging, um ein Bier zu trinken, wie er sagte, und manchmal torkelnd zurückkam. Bente und Hanna brachten die Küche in Ordnung, bevor sie ins Bett gingen. Man schlief viel im Winter.
Manchmal holte Hanna abends ihr Märchenbuch heraus und las ein bisschen. An einem Abend fragte Bente: »Was für ein Buch ist das?«
» Andersens Märchen «, sagte Hanna. »Aber auf Deutsch. Kennst du sie?«
»Weiß ich
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